Syrien: In Aleppo stirbt die Menschlichkeit
Wer in Syrien immer weiter bombt, wird zum Herrscher der Friedhöfe. Ein Kommentar.
Ja, es ist tatsächlich die Erinnerung an Leningrad, das vor dem Sowjetreich und seit dessen Ende St. Petersburg hieß und wieder heißt, Leningrad, das von der deutschen Wehrmacht – ja, nicht von Hitler, aber auf dessen Befehl, von der Wehrmacht – 1000 Tage eingeschlossen und ausgehungert wurde. Weil Hitler keine Gefangenen machen wollte, weil die Menschen in Leningrad ihm keinen Gedanken wert waren. Denn über alles, was ihm nicht arisch dünkte, dachte ein Nazi eben nicht nach.
In Assads Kerkern wurden 16 000 Menschen gefoltert und ermordet
Leningrad, St. Petersburg in Russland, lag in der Sowjetunion, deren historisches Erbe ja Wladimir Putin nach eigenem Willen angetreten hat. Millionen Russen haben unter der diabolischen Einkesselungsanweisung Hitlers gelitten, sind durch sie gestorben. Hat dieses furchtbare, dieses unermessliche Leid etwas geändert in den Genen der Machthaber in Moskau? Hat es so etwas wie Verantwortungsgefühl für die Menschen in die Erbsubstanz der Zarennachfolger gebracht, den Impetus des „So etwas darf nie wieder und nirgendwo jemals wieder geschehen“? Nein, das ist nicht geschehen. Was die russische Luftwaffe, was russische Lenkwaffen, von Zerstörern im Mittelmeer aus abgefeuert, in Aleppo und Umgebung anrichten, ist nichts anderes als das, was die deutsche Armee in Leningrad angerichtet hat. Menschen sterben direkt durch die Bomben, oder sie verrecken, ja, sterben ist das nicht mehr einfach so, verrecken, weil sie nichts zu essen, nichts zu trinken bekommen, oder überleben verletzt, in völliger Apathie. Omran, fünf Jahre alt, ist einer von ihnen, am Freitag schauten seine Augen, aus der Leere in die Leere, auf Seite 1 auch dieser Zeitung die Leser an, als wollten sie fragen: Warum?
In Syrien hat sich eine wahrhaft teuflische Machtkonstellation herausgebildet, weil keiner der Protagonisten von Skrupeln geplagt wird. Machthaber Baschar al Assad – nur noch im Amt, weil Putin ihn hält, nicht etwa, weil Putin ihn mag, sondern weil das Realpolitik ist –, Assad garantiert das Fortbestehen des russischen Marinestützpunktes an der syrischen Mittelmeerküste. Assad, in dessen Kerkern nach Angaben von Amnesty International in den vergangen en vier Jahren 16 000 Menschen gefoltert und ermordet wurden. Und mit im Bunde ist der Iran, der trotz aller vermeintlichen oder tatsächlichen Zugeständnisse und Moratorien in der Nuklearpolitik unverdrossen an der Vernichtung Israels festhält. Und wo der Iran engagiert ist, ist die Hisbollah nicht weit, die vom Libanon bis vor die Tore von Damaskus überall zu finden ist, wo nach dem Willen Teherans andere Mächte destabilisiert werden sollen.
Amerika führt Kriege aus der Luft
Diesem mörderischen Quartett – Syrien und seine Menschen sind ihm völlig egal – stehen kaum weniger friedliche, miteinander Paktierende gegenüber, obwohl wir uns im Westen manchmal einbilden, dies seien die „Guten“ in diesem Krieg, der in Wahrheit nur Böses kennt: Die Bomber amerikanischer, britischer und französischer Herkunft, die tatkräftige Hilfe Saudi-Arabiens, das überall dabei ist, wo es gegen die religiösen Antipoden aus dem Iran geht. Erzähle niemand, dass US-Bomben nur da treffen, wo militärische Ziele sind. Das am 3. Oktober 2015 dem Erdboden gleichgemachte Krankenhaus in Kundus wird nicht wieder aufgebaut, die „Ärzte ohne Grenzen“ haben resigniert. Und dass Barack Obama Assads Giftgasattacken auf das eigene Volk vor Jahren hätten stoppen können, müssen, wenn er nur seine eigenen Worte und Warnungen geglaubt hätte, davon spricht im darob kleinlaut gewordenen Washington keiner. Amerika führt Kriege, ja, viele gleichzeitig, aber aus der Luft, mit Drohnen, das erträgt der amerikanische Wähler eher als direktes Militärengagement. Keine Selbstgerechtigkeit, bitte, die Deutschen sähen das nicht anders.
48-stündige Feuerpause
Und als wäre das nicht schon Hölle auf Erden genug, gibt es ja noch den IS, der sich Islamischer Staat nennt, und die Al-Nusra-Front, die sich in Syrien nur ausbreiten konnten, weil die US-Einsätze im Irak das Land dort politisch und militärisch so destabilisiert hatten, dass ein Terrorregime wie der IS überhaupt erst den Raum bekam sich auszubreiten.
Bekommt die Menschlichkeit in Aleppo nun wieder eine Chance, wenn sich Russland tatsächlich bereiterklärt, in jeder Woche eine 48-stündige Feuerpause zu akzeptieren, in der die hungernde Bevölkerung versorgt werden kann, auf dem Landweg, durch einen Korridor? Dass Frank-Walter Steinmeiers Idee einer Luftbrücke wirklich nur die Ultima ratio gewesen wäre, Abwurf von Lebensmitteln aus der Luft, hat gerade noch Jakob Kern, Landesdirektor des UN-Welternährungsprogramms in Syrien in einem Interview der „FAZ“ erklärt. Hat Russland sich doch seines Leningrad-Gens erinnert? Erst einmal klingt es wie ein Ja. Aber vielleicht soll es nur ein Nein bemänteln. Wenn syrische Regierungstruppen die Lebensmittelkonvois kontrollieren und sie nicht von den UN durchgeführt werden können, weiß niemand, wo die Hilfsgüter landen werden – ob in Aleppo oder in obskuren Kanälen. Nein. Bis zum Beweis des Gegenteils stirbt in Aleppo weiter die Menschlichkeit.
Gerd Appenzeller