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Kampf um die Verteilung von Nahrungsmitteln. Bewohner der kenianischen Hauptstadt Nairobi in der Coronakrise (April 2020).
© picture alliance/dpa/Brian Inganga

Global Challenges: Impft in den Entwicklungsländern!

Die Industriestaaten handeln kurzsichtig, wenn sie in der Pandemie nur sich selber helfen. Ein Gastbeitrag.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Veronika Grimm, Professorin für Volkswirtschaft an der FAU-Universität Erlangen-Nürnberg und seit 2020 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Weitere AutorInnen sind Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

In den westlichen Industriestaaten gelang es in beeindruckendem Tempo, Impfstoffe gegen Covid-19 zu entwickeln, die Vakzine zuzulassen und Produktionskapazitäten zu erhöhen – begleitet von hitzigen öffentlichen Debatten, die jede noch so kleine Verzögerung scharf kritisierten. Schon in diesem Sommer werden die Impfkampagnen in vielen entwickelten Volkswirtschaften weit fortgeschritten sein, allen voran in Israel und Großbritannien. In der Europäischen Union erwartet man, dass im Juli 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ein Impfangebot erhalten haben werden.

Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn man den Impffortschritt weltweit betrachtet. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wurden bislang 75 Prozent aller Covid-19-Vakzine in nur zehn Ländern verimpft. In vielen afrikanischen Staaten sowie zahlreichen Entwicklungs- und Schwellenländern weltweit gab es bislang kaum Impfungen. Gleichzeitig legen Länder wie Israel oder die USA bereits Vorräte für künftige Auffrischungsimpfungen an.

Diese Entwicklung ist nicht nur aus humanitären Gründen inakzeptabel, sondern auch mit Blick auf den Erfolg der Impfkampagnen in den entwickelten Volkswirtschaften sehr kritisch zu sehen. Denn klar ist: In unserer globalisierten Welt wird die Pandemie erst dann unter Kontrolle sein, wenn die Impfungen in allen – oder zumindest sehr vielen – Ländern Wirkung entfalten. Außerdem werden wichtige Austauschbeziehungen, seien es Geschäftsreisen, Studien-Austauschprogramme oder Tourismus, erst dann wieder stattfinden, wenn die Fallzahlen in vielen Staaten niedrig sind.

Gefahr von Mutationen

Hinzu kommt: Ein weiter aktives Infektionsgeschehen in zahlreichen Ländern birgt die Gefahr von Virus-Mutationen. Während nach bisherigem Kenntnisstand die zugelassenen Impfstoffe auch gegen die zuerst in Indien oder Brasilien aufgetretenen Mutationen wirksam sind, ist keineswegs sicher, dass dies auch für zukünftige Varianten gilt. Das Infektionsgeschehen sollte daher dringend weltweit eingedämmt werden – vor allem durch Impffortschritte.

Ohnehin werden die langfristigen Effekte der pandemiebedingten Einschränkungen in Entwicklungs- und Schwellenländern die Weltgemeinschaft vor große Herausforderungen stellen. Ebenso wie in den westlichen Industriestaaten ist die wirtschaftliche Erholung dort eng mit Impffortschritten beziehungsweise der Kontrolle des Infektionsgeschehens verbunden. Vielerorts ist die Wirtschaftsleistung stark eingebrochen. Ein langsamer Impffortschritt verzögert die Erholung weiter. Schon heute stehen viele Staaten vor Problemen, die sie nicht selbst lösen können. Die verzögerte wirtschaftliche Erholung in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern wird diese Probleme verschärfen.

Langfristig sind negative Effekte insbesondere durch Schulschließungen zu erwarten. In einigen afrikanischen Staaten, in Südamerika oder auch Indien waren die Schulen mehr als 30 Wochen komplett geschlossen. Online-Unterricht ist in vielen dieser Länder kaum flächendeckend möglich, was Bildungserfolge massiv in Frage stellt. Diese Entwicklungen bedrohen schon jetzt das Wirtschaftswachstum und damit den Lebensstandard in den betroffenen Ländern auf viele Jahre hinaus. Sie führen auch dazu, dass die Schere zwischen Arm und Reich wieder auseinandergehen wird.

Die westlichen Industriestaaten haben in dieser Situation allen Grund, weltweit die Bereitstellung von Vakzinen zu forcieren und den Aufbau einer Impflogistik mit aller Kraft zu unterstützen. Die im April 2020 gegründete Covax-Initiative zielt in diesem Zusammenhang darauf ab, Regierungen, Gesundheitsorganisationen und Hersteller von Impfstoffen zusammenzubringen, um einen gerechten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen und anderen Behandlungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Bis heute ist Covax jedoch unterfinanziert und konkurriert mit bilateralen Abkommen zwischen Regierungen und Herstellern um Lieferungen.

Aufgeladene Debatte

Jüngst hat die Debatte über den globalen Impffortschritt insbesondere durch den Vorstoß des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden zur Freigabe von Patenten an Fahrt gewonnen. Es geht dabei nicht nur um die beste Lösung zur Skalierung der Produktion und Verteilung der Impfstoffe. Die Debatte ist auch symbolisch aufgeladen und kann geopolitische Folgen haben – etwa wenn China zahlreichen Ländern Impfstoff spendet und so sein internationales Prestige erhöht.

Es ist zu begrüßen, dass die Diskussion um den Patentschutz die weltweiten Anstrengungen zur Beschleunigung der globalen Impfkampagne deutlich erhöht hat. So beschleunigte die Europäische Union jüngst Kooperationen mit einer großen Zahl an europäischen Nachbarstaaten und mit Afrika. Die Hersteller der Vakzine, insbesondere BioNTech/Pfizer, Johnson&Johnson und Moderna, haben überdies Lieferungen von über 2,6 Milliarden Impfdosen an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen in diesem und im kommenden Jahr zugesagt.

Allerdings dürfte das Ziel, die Impfstoffe schnell weltweit in großer Menge verfügbar zu machen, vermutlich besser auf anderem Wege als über eine Patentfreigabe erreicht werden – und zwar über die freiwillige Lizensierung an eine Reihe von Pharmaunternehmen, die ihre Kapazitäten für die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen gegen Covid-19 bereits angeboten haben. So wäre die Beschleunigung der Impfkampagne in Kooperation mit den etablierten Herstellern möglich. Eine weitere Option besteht darin, Patentrechte der für ärmere Länder vielversprechenden Impfstoffe aufzukaufen und Herstellungslizenzen an qualifizierte Produzenten in Entwicklungs- und Schwellenländern zu vergeben.

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Ein Patent-Pool als Möglichkeit

Auch der Weg über einen Patent-Pool wäre denkbar, in dem Lizenzen mit Generikaherstellern im Bündel verhandelt würden, bei der Weiterentwicklung entstehendes Knowhow geteilt werden könnte und Innovationsanreize erhalten blieben. Die Kosten müssten wohl durch die Staatengemeinschaft mitfinanziert werden, vermutlich zum Teil über eine finanzielle Aufstockung der Covax-Mittel.

In jedem Fall sollte die Finanzierung so gestaltet werden, dass die schnelle Skalierung der Produktion möglichst attraktiv erscheint. Offensichtlich stellt sich bei allen Varianten die Frage nach dem Preis, denn einen „Marktpreis“ gibt es nicht. Er müsste sich aus einem Kompromiss zwischen den Staaten und den Unternehmen ergeben.

Von großer Bedeutung für den weltweiten Impffortschritt ist und bleibt ein ausgewogener Umgang mit nationalen Eigeninteressen. Oft haben Exportstopps bei Impfstoffen – etwa in Großbritanniens und den USA – oder auch indirekte Exportbeschränkungen für wichtige Vorprodukte das Impftempo gedrosselt. Angesichts der emotional aufgeladenen nationalen Debatten in der einmaligen Situation der weltweiten Corona-Pandemie war ein starker Fokus auf das nationale Impfgeschehen vorübergehend wohl unvermeidbar. Doch nun gilt es umso mehr, der globalen Situation alle Aufmerksamkeit zu schenken. Je weniger dies gelingt, desto größer werden die globalen Herausforderungen in der Zukunft.

Veronika Grimm

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