Nach dem Brexit-Votum: Im Kampf gegen die Fliehkräfte
Wann der Brexit verhandelt wird, ist unklar. Einigen kann es gar nicht schnell genug gehen, andere dagegen bremsen.
Angela Merkel findet, dass sie etwas klarstellen sollte. Eine „dauerhafte Hängepartie“ nach dem Brexit wäre schlecht für alle, besonders die Wirtschaft, sagt die Kanzlerin am Montag in Berlin. Aber dass sie in London „eine gewisse Zeit“ brauchten, um die Konsequenzen aus der Volksabstimmung zu klären, dafür habe sie erstens Verständnis und zweitens bleibe ihr nichts anderes übrig. Den Austritt aus der EU müsse nun mal die Regierung in London erklären, „da habe ich weder eine Bremse noch habe ich da eine Beschleunigung.“
Die Klarstellung ist vorrangig der deutschen Innenpolitik geschuldet. Seit dem Brexit-Schock verbreitet die SPD einen Plan nach dem nächsten, was jetzt sofort als Nächstes passieren müsse, bei der Vertiefung der Rest-Union angefangen. Am Montag gibt SPD-Chef Sigmar Gabriel der Kanzlerin markig mit, was am Dienstag und Mittwoch beim EU-Gipfel in Brüssel zu tun sei: „Klarheit statt Taktiererei, entschlossenes Handeln statt Zaudern!“
Merkel hält das für Kraftsprüche, und der CDU-Vorstand hat sie darin in seiner Schaltkonferenz am Montagfrüh bestätigt. Die Parteispitze hat auch zustimmend reagiert, als die Chefin dafür plädierte, die Brüsseler Energien künftig vorrangig auf große Themen zu konzentrieren wie den Schutz der Außengrenzen, innere Sicherheit und Arbeitsplätze, um so die Zustimmung der Bürger zum Projekt EU zu erhalten.
Als vordringlichste Aufgabe nennt Merkel aber, den Zusammenhalt der verbleibenden EU-Staaten zu sichern gegen „Fliehkräfte“. Die sind seit langem am Werk, in der Euro-, der Griechenland- und der Flüchtlingskrise bestärkt worden und drohen jetzt vom Brexit neuen Schwung zu bekommen. Dass Merkel vor voreiligen Schlüssen warnt, hat viel damit zu tun, dass ihr die meisten dieser Schlüsse nicht passen – der Ruf nach Abkehr von der Sparpolitik voran.
Merkels Methode hat allerdings einige unangenehme Nebeneffekte. Sie muss sogar den Verdacht abwehren, sie spekuliere auf einen Exit vom Brexit. „Ich befasse mich mit Realitäten“, sagt die Kanzlerin. Überdies steht sie in der EU mit ihrem Verständnis für die britische Langsamkeit relativ alleine. Selbst die drei Besucher, mit denen sie am Montag den Gipfel vorbereitete, drücken aufs Tempo – von EU-Ratspräsident Donald Tusk über Frankreichs Staatchef François Hollande bis zu Italiens Premier Matteo Renzi.
Weit unangenehmer noch ist der Eindruck, dass Merkel unfreiwillig wie eine Verbündete der Brexit-Briten wirkt. Deren Anführer Boris Johnson hat schließlich schon erklärt, dass er sich viel Zeit lassen will mit dem Abschied aus der EU. Seit Montag kann man obendrein nachlesen, wie sich der frühere Londoner Bürgermeister diesen Abschied vorstellt: Wir behalten einfach alle Vorteile Europas für uns, nur sagen lassen wir uns aus Brüssel nichts mehr.
Nun will er "Wunden heilen" und "Brücken bauen"
Der Text in Johnsons regelmäßiger Kolumne für die Zeitung „The Telegraph“ ist vor allem als Werbebotschaft an die andere Hälfte Britanniens konzipiert, jene 16 Millionen, die gegen den Brexit stimmten. Von „Wunden heilen“ und „Brücken bauen“ ist da die Rede, vor allem aber davon, dass Großbritannien immer ein Teil Europas sein werde: In Kunst und Wissenschaft, bei Hochschulen und Umweltschutz werde es bei enger Partnerschaft bleiben. Briten würden weiter in der EU leben, arbeiten, studieren und einkaufen können, freier Handel und Zugang zum Binnenmarkt würden erhalten.
Wen Johnson da zu beruhigen und für sich einzunehmen versucht, ist leicht zu erkennen: Jene jungen, gebildeten, international vernetzten Bürger, die jetzt fürchten, auf ihrer Insel vom Rest Europas abgeschnitten zu werden. Der Text ist zugleich eine offene Herausforderung an die Rest-EU – und ganz speziell an Merkel. Die hält im Gegensatz zu vielen Partnern wenig davon, die Briten zur Abschreckung hart anzupacken, schon weil sie sich ausrechnen kann, was die symbolisch Härte die EU kosten würde.
Aber so rosarot, wie Johnson seinen Bürgern das künftige Verhältnis zwischen Briten und EU ausmalt, kann es natürlich auch nicht werden. „Die einzige Veränderung“, behauptet Johnson, werde darin bestehen, dass sich Großbritannien vom undurchsichtigen System des EU-Rechts befreie. Das ist eine relativ dreiste Ausweitung des alten Konservativen-Mottos schon aus den Zeiten der Mitgliedschaft, das Land wolle stets „das Beste aus beiden Welten“ für sich.
Johnson indes könnte der Mann werden, mit dem die EU den Austritt verhandeln muss. Bis Anfang September wollen die Tories einen neuen Chef statt des gescheiterten David Cameron finden, am 2. September soll der nächste Regierungschef gewählt werden. Erst der soll den Austritt vollziehen – Schatzkanzler George Osborne bekräftigte, die Regierung in London brauche erst einmal selber „klare Vorstellungen“.
Einer dieser klaren Vorstellungen allerdings hat Merkel dann doch eine ebenso klare Absage erteilt: Verhandelt mit London wird erst, wenn der Austritt erklärt ist, nicht vorher. An dem Punkt sind die 27 Rest-Europäer sich einig. Johnson und andere hatten von „Vorverhandlungen“ geredet; der Brexit-Truppenführer hat sogar in Frage gestellt, ob sein Land überhaupt den Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon anwenden müsse. Der hält für Ausscheidende einen großen Nachteil bereit: Wird in zwei Jahren keine Einigkeit über die Scheidungsbedingungen erzielt, tritt die Trennung automatisch ein, als harter Schnitt. Mit der Drohung im Nacken verhandelt es sich schlecht.