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Der Terror hat nicht gewonnen: Das Bild zeigt den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz drei Tage nach dem Attentat, am 22. Dezember 2016.
© Michael Kappeler/dpa/AFP

Ein Jahr nach dem Anschlag auf Berlin: Im Gedenken: Trauer und das Recht auf Freiheit

Hätte der Anschlag verhindert werden können? Quälende Fragen liegen den Angehörigen der Opfer auf der Seele. Die Religion sollte nicht dazugehören. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Stirbt ein Mensch durch Krankheit oder eine Naturkatastrophe, können die Hinterbliebenen mit dem Schicksal hadern oder mit Gott. Stirbt ein Mensch aber durch ein Verbrechen, stellt sich die Frage nach der Verantwortung. War die Tat absehbar? Hätte sie verhindert werden können? Hinterbliebene wollen verstehen. Nur was verstanden wird, kann auch verarbeitet werden, alles Unverstandene bleibt quälend sinnlos. Deshalb schulden diejenigen, die für die Sicherheit von Menschen zuständig sind, den Hinterbliebenen Antworten.

Am Dienstag jährt sich der Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. Zwölf Menschen wurden ermordet. Zur Trauer und zum Schmerz kam für die Angehörigen das Gefühl ohnmächtiger Wut. Der Attentäter war observiert worden, hätte abgeschoben werden können, war mit mehreren Identitäten umhergereist. Dann radikalisierte er sich, unterstützt von islamistischen Predigern, es gab Hinweise auf Anschlagsplanungen. Doch nichts geschah. Eine größere Panne, ja Katastrophe ist für Sicherheitsbehörden kaum vorstellbar. Erst Schock, dann Scham, dann Schande: Die bis jetzt schon offenbarte Unfähigkeit der Geheimdienste und Sicherheitsbehörden hat die Wirkung des Anschlags vergrößert.

Dabei hatten viele mit einem Anschlag gerechnet. Warum sollte ausgerechnet Deutschland vom internationalen Terrorismus verschont bleiben? London, Madrid, Paris, Nizza, Brüssel – Warnungen gab es zuhauf. Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte wiederholt von konkreten und anhaltend hohen Gefährdungslagen gesprochen. Gesichert allerdings wurden Plätze wie der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche nicht. Keine Betonpoller, keine zusätzlichen Beamten, keine Vorsorge in Zeiten des Terrors. Je unfassbarer die Versäumnisse der Behörden, desto fassungsloser wurden die Angehörigen der Opfer.

Vor mehr als zwei Wochen ging in der Regierungszentrale ein Brief ein. „Frau Bundeskanzlerin, der Anschlag am Breitscheidplatz ist auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit Ihrer Bundesregierung“, heißt es darin. „Fast ein Jahr nach dem Anschlag haben Sie uns weder persönlich noch schriftlich kondoliert.“ Unterzeichnet wurde der Brief von Mitgliedern aller zwölf Familien der Todesopfer.

Die Aufarbeitung scheint immer wieder neu zu beginnen

Nun traf sich Angela Merkel mit ihnen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, im Bundeskanzleramt. Sie wolle genau wissen, was den Angehörigen eine ungeheuer schwere Zeit möglicherweise unnötig schwerer gemacht habe, hatte Regierungssprecher Steffen Seibert zuvor gesagt. Im Übrigen sei die Einladung für das Treffen vor dem Eingang des Briefes im Kanzleramt verschickt worden. Wenige Tage nach den Terroranschlägen im Januar 2015 in Paris hatte Merkel in der französischen Hauptstadt an einem Trauermarsch teilgenommen. Es gibt Ereignisse, da diktiert das Herz, was zu tun ist, nicht der Terminkalender.

Erschreckende Defizite zeigten sich ebenfalls bei der Hinterbliebenenbetreuung. Die Berliner Rechtsmedizin verschickte standardisierte Rechnungen für die „Untersuchung eines Toten (unbekannt) einschließlich Feststellung des Todes und Ausstellung eines Leichenschauscheins“, entschuldigte sich aber immerhin für die Panne. Der neue Senat war erst seit elf Tagen im Amt und unkoordiniert. Es fehlte eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene, die finanziellen Mittel für Soforthilfen waren viel zu gering. Der Opferbeauftragte für die Bundesregierung, Kurt Beck, hat Änderungen angemahnt, der Fonds für die Opfer sei auf bis zu 3,1 Millionen Euro aufgestockt worden.

Der Attentäter, Anis Amri, war im Jahr 2011 von Tunesien nach Europa eingereist. Weil er fälschlich 1994 als sein Geburtsjahr angab, galt er zunächst als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling. Sein Werdegang demonstriert jenes hohe Maß an Kontrollverlust, das nicht allein Gegner von Merkels Flüchtlingspolitik ab dem Herbst 2015 beklagten.

Zu Zigtausenden wurden Flüchtlinge bei Grenzübertritten nicht oder nur unzureichend registriert, lange Zeit fehlten nationale und europaweite Zentraldateien. Von Bundesregierung und Geheimdiensten hieß es dennoch, von Flüchtlingen gehe keine Terrorgefahr aus. Diese These war zwar schon seit den Anschlägen von Paris im November 2015 ins Wanken geraten, musste nun aber auch in Deutschland mit dicken Fragezeichen versehen werden. Erst die Silvesternacht von Köln, dann der Anschlag vom Breitscheidplatz: Merkels Flüchtlingspolitik schien einen Teil ihrer humanitären Unschuld verloren zu haben.

Die Panik hat sich nicht durchgesetzt

Und heute, ein Jahr danach? Von Panik ist kaum noch etwas zu spüren. Die Zahl der Flüchtlinge ist rapide gesunken, ihre Integration geht voran. Auf den Weihnachtsmärkten drängeln sich die Besucher, trinken Glühwein, essen Zuckerwatte und kandierte Äpfel. An diesem Dienstag soll auf dem Breitscheidplatz ein dauerhaftes Denkmal mit den Namen der Toten und einem drei Zentimeter breiten goldenen Riss auf dem Boden eingeweiht werden.

Streit gab es um die Inschrift des Mahnmals. Darauf steht: „Zur Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags am 19. Dezember 2016. Für ein friedliches Miteinander aller Menschen.“ Islam-Kritiker bemängelten, dass dadurch das religiöse Motiv des Attentäters, seine islamistische Ideologie, verschleiert werde.

Vielleicht hilft ein Blick nach Israel. Kein anderes Land der westlichen Welt leidet stärker unter Terroranschlägen, keines hat einen höheren muslimischen Bevölkerungsanteil. Doch die Religion des Islam, als mögliche Quelle des Unheils, wird nicht thematisiert. Man verweigert sich der Spirale aus Ablehnung des Islam, Diskriminierung von Muslimen, Radikalisierung von Muslimen, islamistisch motivierter Attentate, gefolgt von erneuter Ablehnung des Islam.

Das Recht auf Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Wer es Angehörigen einer anderen Religion abspricht, befördert Gewalt.

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