Cem Özdemir: "Ich will starke Grüne in die Bundesregierung führen"
Grünen-Chef Cem Özdemir spricht im Interview darüber, warum er Jamaika skeptisch sieht, über den Streit mit der Türkei und den Umgang mit der AfD.
Herr Özdemir, sind Sie ein Freund von Klarheit und Wahrheit im Wahlkampf?
Ja. Was man vor der Wahl verspricht, sollte man nachher auch halten.
Dann können Sie jetzt ja Klarheit schaffen: Welche Koalition kriegen die Wähler, wenn sie die Grünen wählen?
Die Grünen gehen nur dann in eine Koalition, wenn es einen klaren Kurswechsel beim Klimaschutz gibt. Das Thema muss in der nächsten Bundesregierung zur Chefsache werden und sich durch jedes Ressort ziehen, bis hin zur Außenpolitik.
Das sind die Voraussetzungen für eine Koalition mit Angela Merkel und der Union?
Wir reden mit allen Parteien außer der AfD. Wir sind bereit mitzuregieren, wenn es entschieden in unsere Richtung geht. Aber nur dann. Die nächste Regierung muss entschlossen die Mobilitätswende anpacken. Wir wollen die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke abschalten. Wir brauchen eine Agrarwende. Und wir stehen für einen proeuropäischen Kurs. Das alles ist nicht verhandelbar.
Entscheiden die kleinen Parteien die Bundestagswahl?
Das Rennen um Platz eins scheint gelaufen, da liegt Angela Merkel vorne. Jetzt geht es darum, wer auf Platz drei landet. Die Wähler stehen vor einer Richtungsentscheidung: Wird die nächste Bundesregierung von den Grünen geprägt – oder kommt die alte FDP zurück ans Ruder?
Sie machen die Wahl zur Abstimmung über Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb?
Wir stellen die Wähler vor die Alternative, ob die FDP in der nächsten Bundesregierung rückwärtsgewandte Klientelpolitik macht oder die Grünen das Land modernisieren. Viele haben Schwarz-Gelb noch in unguter Erinnerung und das zu Recht. Wir haben erst vor Kurzem noch eine Rechnung über sechs Milliarden Euro wegen der von Schwarz-Gelb verpfuschten Brennelemente-Steuer erhalten. Ich will starke Grüne in die nächste Bundesregierung führen.
Notfalls auch in ein Jamaika-Bündnis mit der FDP?
Ich sehe nicht, wie wir mit dieser FDP zusammenkommen sollen. Die Generalsekretärin glaubt, dass die Wetterkapriolen, die wir derzeit erleben, nichts mit der Klimakrise zu tun haben, sie hält sie für Fake News. Donald Trump lässt grüßen, solche Positionen haben in einer Bundesregierung nichts zu suchen. Oder nehmen Sie Parteichef Christian Lindner. Wenn die Stickoxid-Grenzwerte in den Städten nicht eingehalten werden können, weil die Autoindustrie betrogen hat, dann will er einfach die Grenzwerte aufweichen. Vergessen Sie’s, für eine solche Politik geben wir uns nicht her.
Mit den Grünen gibt es also kein Jamaika?
Beim Schutz der Gesundheit und beim Klima mache ich keine Kompromisse. Wir erleben gerade im Wochentakt Jahrhundertstürme und Wetterkatastrophen – Hurrikan "Harvey", "Irma", die Monsunregen in Indien mit mehr als 1000 Toten. Hurrikan Christian würde die Klimakrise weiter befeuern. Das muss Deutschland verhindern.
Drei Wochen nach der Bundestagswahl wird in Niedersachsen gewählt, wo Rot- Grün ums Überleben kämpft. Wird es vorher überhaupt zu ernsthaften Gesprächen mit der Union im Bund kommen?
Ich kann vor Taktiererei nur warnen. Eine Landtagswahl darf nicht darüber entscheiden, wann Koalitionsverhandlungen im Bund anfangen. Deutschland als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt braucht eine Regierung. Wir sind bereit, so schnell wie möglich zu verhandeln.
Neue Koalitionen erfordern Vertrauen. Mit welchen Unionspolitikern verbindet Sie ein belastbares Vertrauensverhältnis?
Ich war in Bonn Miterfinder der schwarz- grünen Pizza-Connection, die Freundschaften, etwa zu Peter Altmaier, bestehen bis heute. Ich pflege aber generell in alle Parteien gute Kontakte. Auch in der SPD, der Linkspartei und der FDP gibt es Menschen, die ich auf eine private Party einladen würde. Das ändert nichts daran, dass ich in Koalitionsverhandlungen hart in der Sache wäre.
Im Ernstfall müssten Sie aber auch mit CSU-Chef Horst Seehofer an einem Verhandlungstisch sitzen...
Das muss die Bundeskanzlerin ja auch aushalten.
Seehofer macht das Festhalten am Verbrennungsmotor zur Bedingung für Koalitionsverhandlungen. Hat sich Schwarz-Grün damit nicht erledigt?
Die Unternehmen werden nur überleben, wenn sie in Zukunft emissionsfreie Autos bauen. Die nächste Koalition muss einen klaren Fahrplan in Richtung Null-Emissionsauto beschließen – zum Schutz von Gesundheit und Klima und auch um die Zukunftsfähigkeit des Autostandorts Deutschland sicherzustellen.
Beharren Sie darauf, das ab 2030 keine Verbrenner mehr vom Band rollen?
Mit diesem Datum gehen wir in Verhandlungen. Ich gehe nur in eine Regierung, die den Einstieg aus dem Ausstieg des fossilen Verbrennungsmotors verbindlich einleitet.
Was wäre die Legitimation für Schwarz- Grün? Könnte eine solche Koalition den Brückenschlag zwischen Ökonomie und Ökologie hinbekommen?
Die Zeit der Modelle ist vorbei. Es geht schlicht darum, dass Deutschland gut regiert wird. Dass zwischen Umwelt und Wirtschaft ein „und“ gehört und kein „oder“, dafür steht meine Partei. Wir haben Daimler-Chef Dieter Zetsche auf unseren Parteitag eingeladen, um mit ihm über die Zukunft des Autos zu diskutieren. Da hat die Union den Zug verpasst.
Von zweistelligen Werten sind die Grünen derzeit weit entfernt. Was haben Sie falsch gemacht?
Die grünen Themen kommen jetzt auf die Tagesordnung: der Diesel-Skandal, die Wetterkapriolen, die Fipronil-Eier. Und da das Rennen der Großen entschieden scheint, richtet der Blick sich auf die Kleinen. Die Debatte über die Zukunft des Landes findet jetzt zwischen Christian Lindner und Cem Özdemir statt.
Ist Schwarz-Grün für Ihre Anhänger kein Schreckgespenst mehr?
Das größte Schreckgespenst für uns ist, dass die große Koalition bleibt oder, noch schlimmer, die FDP regiert. Die Hälfte der Deutschen wollen laut einer aktuellen Umfrage, dass die Grünen in der nächsten Regierung vertreten sind. Das nehme ich ernst. Ich kann doch nicht durch die Republik reisen und sagen, das Eis in der Arktis schmilzt, der Artenreichtum bei Tieren und Pflanzen nimmt dramatisch ab – aber mir ist es egal, wer am Ende regiert.
Was würde die Fortsetzung der großen Koalition für Deutschland bedeuten?
Eine große Koalition tut dem Land nicht gut. Sie würde weitere vier Jahre Stillstand bedeuten. Das dürfen wir uns nicht leisten. Die nächste Bundesregierung muss unser Land endlich zukunftsfähig machen und zentrale Reformen angehen.
Welche?
Es ist eine Riesenaufgabe, die Flüchtlinge hier zu integrieren. Das wird kein Selbstläufer. Wir haben es mit Menschen zu tun, die traumatisiert sind und wegen des Krieges keine Bildung erfahren konnten. Wir müssen ihnen Deutsch beibringen und eine Ausbildung oder einen Job verschaffen. Wir müssen es schaffen, diese Menschen ins Grundgesetz zu integrieren. Bei uns sind Frauen gleichberechtigt, und Homosexuelle dürfen heiraten. Ich sage: Kein heiliges Buch darf über der Verfassung stehen. Wir müssen aber auch bei der Digitalisierung, der Bildung und vor allem beim Klimaschutz deutlich vorankommen.
In Österreich haben über Jahrzehnte große Koalitionen regiert und zu einem Erstarken der Ränder geführt. Erwächst für die Grünen daraus die Verpflichtung, die große Koalition abzulösen?
Österreich sollte uns eine Mahnung sein, wo man landen kann, wenn man nicht gegensteuert. Bei uns ist die AfD zum Glück nicht so stark wie die FPÖ. Und keiner denkt hier ernsthaft daran, die Rechtspopulisten an einer Regierung zu beteiligen. Aber in Sachsen-Anhalt hat die CDU neulich im Parlament einem ideologischen Antrag der AfD zugestimmt. Das war ein Tabubruch.
Die AfD wird wahrscheinlich erstmals in den Bundestag einziehen. Wie wollen Sie mit den Rechtspopulisten im Parlament umgehen?
Die AfD teilt nicht das Menschenbild des Grundgesetzes. Für mich sind das keine normalen Kollegen. Aber ich werde mich natürlich demokratisch mit denen auseinandersetzen und versuchen, sie mit Argumenten zu entlarven.
Die AfD sitzt in etlichen Landtagen. Lassen sich die Rechtspopulisten in den Parlamenten entzaubern?
Ich habe den Eindruck, dass die Partei nicht wegen ihrer Vorturner gewählt wird. Die AfD dient als Ventil für diejenigen, die eine ganz andere Weltsicht haben, die zum Teil Minderheiten diskriminiert, Fakten ignoriert und glaubt, das ‚Deutschsein’ zu definieren.
Die Grünen sind stets vorne mit dabei, wenn es darum geht, die AfD zu verurteilen. Glauben Sie, dass die Wähler dieser Partei allesamt rassistisch sind?
Ich stempele niemanden per se als Rassisten ab, der die AfD wählt. Wenn jemand sagt, dass er ein Problem mit Asylbewerbern hat, die kriminell geworden sind, höre ich mir das an und diskutiere sachlich mit ihm. Man muss die Ängste der Menschen ernst nehmen. Wenn ich an der Bushaltestelle einen salafistischen Vater mit seinen Kindern sehe, wird mir auch mulmig. Ich frage mich, was der seinen Kindern über andere Menschen beibringt. Am stärksten bekommen übrigens Muslime in Deutschland solche Veränderungen zu spüren.
Inwiefern?
Der liberale Islam, den ich von meiner Mutter gelernt habe, ist massiv bedroht. Schauen Sie sich die türkischen Lehrbücher an. Da steht inzwischen wieder, dass die Frau dem Mann zu dienen hat und dass man keinen Atheisten heiraten soll. Das gab es vor einigen Jahren nicht. Unter Präsident Erdogan bewegt sich die Türkei in Richtung der extremen Ideologie des Wahabismus der Golfstaaten.
Im Endspurt des Wahlkampfs hat sich die große Koalition zu harten Ansagen gegenüber der Türkei durchgerungen. Jetzt will die Kanzlerin auch die EU-Beitrittsverhandlungen abbrechen. Zufrieden?
Damit kann man nicht zufrieden sein. Die Beitrittsverhandlungen liegen ohnehin auf Eis. Mit dem Abbruch zu drohen, ist ein stumpfes Schwert, und es schadet der türkischen Opposition, die unsere Unterstützung braucht. Kein Mensch glaubt, dass es mit Erdogan auch nur den Hauch einer Chance auf eine EU-Mitgliedschaft gibt. An der Stelle den starken Max zu markieren, bringt gar nichts. Deshalb wird keine der Geiseln freigelassen, die Erdogan ins Gefängnis gesperrt hat.
Was würde ein Außenminister Özdemir an der Türkeipolitik ändern?
Netter Versuch, aber über Posten redet man erst, wenn man gewonnen hat. Klar ist: In der Regierung werden wir Grüne den Kuschelkurs beenden. Mit mir gäbe es klare Ansagen an Erdogan, gerne auch auf Türkisch. Die große Koalition hat bisher nichts getan, was Erdogan wirklich wehtun würde. Deutschland muss die Waffenexporte in die Türkei stoppen und sollte nicht zulassen, dass Rheinmetall mit dem Cheflobbyisten, dem ehemaligen FDP-Entwicklungsminister Dirk Niebel, dort Panzer baut. Wir müssen die Zollunion einschränken, und wir sollten Geschäfte deutscher Firmen mit der Türkei nicht mehr durch Hermes-Bürgschaften absichern.
Wie sehr leiden Deutschtürken unter den Spannungen zwischen Berlin und Ankara?
Das spaltet Familien. Und es führt dazu, dass Arbeitskollegen nicht mehr miteinander reden oder Konflikte in Schulen getragen werden. Viele Menschen haben Angst, dass sie denunziert werden und auf einer schwarzen Liste landen und den Preis spätestens dann zahlen, wenn sie in die Türkei einreisen wollen. Zu mir kommen im Moment reihenweise Leute, die verunsichert sind, ob sie noch in die Türkei fahren können. Es ist unverantwortlich, dass das Auswärtige Amt noch keine offizielle Reisewarnung ausgesprochen hat. Mir fehlt bei dieser Regierung aber auch eine klare Ansage in unsere Gesellschaft hinein.
Wie sollte die denn aussehen?
Wir müssen klarmachen: Hier gelten Erdogans Gesetze nicht, wir lassen keine rechtsfreien Räume zu. Oppositionelle müssen sich in Deutschland sicher fühlen können. Das ist im Moment nicht der Fall. Bis zu 600 türkische Spione sollen sich hier aufhalten. Das können wir nicht dulden. Wir müssen beispielsweise vom Moscheeverband Ditib verlangen, dass er sich klar von Erdogan abnabelt.
Sie sind in der Türkei persona non grata. Glauben Sie, dass Sie noch vor Ihrem 60.Geburtstag wieder in die Türkei reisen können?
Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Wahnsinn nicht ewig weitergeht. Es wird eine Zeit nach Erdogan geben.