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Die Kabarettistin Idil Baydar setzt sich seit Jahren gegen Rassismus ein.
© dpa
Update

Wer steckt hinter den Drohmails von „NSU 2.0“?: „Ich habe Angst vor der Polizei“

Die bedrohte Kabarettistin Baydar hat wegen des Falls „NSU 2.0“ das Vertrauen in die Polizei verloren. Jetzt wurde auch ein Anwalt von NSU-Opfern bedroht.

Idil Baydar ist wütend. Schon länger wird die Berliner Kabarettistin von Rechtsextremisten bedroht. „Man will mich abknallen, meine Mutter umbringen“, erzählt sie am Telefon. Acht Mal habe sie die Drohungen angezeigt, doch die Verfahren seien eingestellt worden. Von der Polizei fühlt sich Baydar nicht geschützt. Diese Woche kam heraus, dass Baydars persönliche Daten unbefugt von einem hessischen Polizeirechner abgerufen wurden. Baydar sagt dem Tagesspiegel: „Ich habe Angst vor der Polizei.“

Es sind bittere Worte, die zeigen, wie schwer der Vertrauensverlust wiegt, den die sogenannte Drohmail-Affäre ausgelöst hat. Baydar ist – wie berichtet – die dritte Prominente, bei der es offenbar einen Zusammenhang gibt zwischen dem unbefugten Abruf von Daten aus einem hessischen Polizeicomputer und rechtsextremen Drohungen.

Seit 2018 wird die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz mit Todesdrohungen überzogen, vergangene Woche wurde der Fall der Linken-Politikerin Janine Wissler bekannt. Bei allen drei Frauen wurden Daten von einem hessischen Polizeicomputer abgerufen, alle drei Frauen bekamen zudem Drohmails von einem Absender „NSU 2.0“ – eine Anspielung auf die rechtsextreme Terrorgruppe „Nationalsozialistischen Untergrund“, kurz NSU.

Im Alltag beobachtet?

Dazu kommen weitere Fälle von Drohmails. Die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner bekam Post von „NSU 2.0“, genauso wie die Berliner Linken-Abgeordnete Anne Helm. Sie vermutet eine Verbindung zu Neonazis in Berlin, weil die Drohschreiben darauf schließen ließen, dass sie jemand hier vor Ort beobachtet hat. Helm wird bereits seit Längerem von Rechtsextremen bedroht. Einmal hätten sich zwei Neonazis morgens an der Bushaltestelle neben sie gesetzt und gesagt, sie wüssten, wo sie wohne, erzählte Helm der „Berliner Morgenpost“. Und nun ließ „NSU 2.0“ durchblicken, viel über Helm zu wissen.

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Eines der neuesten bekannt gewordenen Opfer von Todesdrohungen ist der Siegburger Anwalt Mehmet Daimagüler. Er hatte unter anderem Opfer im NSU-Prozess vertreten und ist der erste Empfänger von Drohmails aus Nordrhein-Westfalen. Die Ermittlungsbehörden müssen die Echtheit der Nachricht noch bestätigen.

Auch betroffen ist die ZDF-Moderatorin Maybritt Illner, wie der Fernsehsender am Donnerstag bestätigte. Nach Informationen des Hessischen Rundfunks hat auch die taz-Autorin Hengameh Yaghoobifarah eine Drohmail erhalten. Sie hatte vor einem Monat eine umstrittene Kolumne über die Polizei geschrieben.

Ebenfalls bedroht worden ist die Linken-Bundestagsabgeordnete Helin Evrim Sommer. In den Fällen von Renner, Illner, Helm, Yaghoobifarah und Sommer ist zwar bislang kein Datenabruf von einem Polizeirechner aus bekannt.

Der Ermittlungsdruck wächst dennoch. „Das muss bis ins Letzte aufgeklärt werden“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch. Dann müssten daraus Konsequenzen gezogen werden. „Die Aufklärung der Vorgänge in Hessen werden wir sehr genau beobachten“, versicherte der Sprecher des Bundesinnenministeriums. „Wenn sich die Vorgänge bestätigen sollten, dann ist das selbstverständlich ein schwerer Image-Schaden für die Polizei.“

Die Täter verwenden wechselnde Selbstbezeichnungen

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft hat jetzt bei ihren Ermittlungen auch die Untersuchungen zu den nach Berlin versandten Mails an die Kabarettistin Baydar und die Linke-Politikerinnen übernommen. Zudem ist in Hessen ein Sonderermittler im Einsatz, um zu den Abrufen der persönlichen Daten der später bedrohten Frauen von Polizeicomputern zu ermitteln.

Aus Sicht der Linken müsste wegen der bundesweiten Dimension eigentlich der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernehmen. Der sieht aber die Voraussetzungen noch nicht gegeben. Die Ermittlungen kommen derzeit nur schleppend voran.

Janine Wissler, Linke-Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag
Janine Wissler, Linke-Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag
© dpa/Arne Dedert

Wer steckt hinter den Mails? Es dürfte sich lohnen, das Ganze in einem größeren Kontext zu betrachten. Der Verfassungsschutz beobachtet seit Ende 2017 den Versand von Mails, die massive Beschimpfungen und rassistische Äußerungen mit Erpressungsversuchen verbinden. „Der oder die Absender drohen beispielsweise damit, dass sie im Internet Waffen an Rechtsextremisten verkaufen oder dass sie rechtsextremistische Anschläge gegen Bezahlung begehen, wenn ihnen nicht eine hohe Geldsumme in einer Digitalwährung überwiesen wird“, heißt es im Verfassungsschutzbericht 2019.

Im Jahr 2019 gingen Mails mit Bombendrohungen bei Gerichten, öffentlichen Einrichtungen und diversen Politikern ein. Die Täter hätten wechselnde Selbstbezeichnungen verwendet, heißt es beim Verfassungsschutz. Dazu zähle beispielsweise „Staatsstreichorchester“ und „Cyber Reichswehr“. Zudem seien den Sicherheitsbehörden in letzter Zeit immer wieder sogenannte „Feindeslisten“ untergekommen, auf denen Rechtsextremisten Informationen zu ihren politischen Gegnern sammelten.

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Wie viele Personen hinter den Pseudonymen stecken - unklar

Vor dem Landgericht Berlin muss sich derzeit der Rechtsextremist André M. verantworten. Er soll unter dem Absender „NationalSozialistische Offensive“ bundesweit insgesamt 87 Bombendrohungen verschickt haben – zum Teil mit gravierenden Folgen. So mussten mehrere Gerichte geräumt werden, allerdings ohne dass tatsächlich Bomben gefunden wurden. M. hatte sich im Internet radikalisiert und war dort offenbar mit anderen Fanatikern in Kontakt gekommen.

Zu Beginn des Prozesses gegen M. verschickten seine Kumpanen mehrere Drohungen. So versandte der Absender „Staatsstreichorchester“ am Vorabend des Prozesses eine Mail an den Tagesspiegel, in der ein Freispruch für M. gefordert wurde und mit Anschlägen wie in „Kassel, Halle, Hanau“ gedroht wurde. Bei Gericht ging tags darauf ein Fax von „NSU 2.0“ ein, in dem von „zahlreichen Sprengsätzen“ die Rede war.

Wie viele Rechtsextremisten sich hinter den Pseudonymen verstecken und an welcher Stelle möglicherweise Polizisten verstrickt sind, ist unklar. Die Kabarettistin Baydar sagte dem Tagesspiegel, sie habe auch SMS bekommen, die mit „SS Obersturmbannführer“ unterschrieben gewesen seien.

„Wir gehen fest davon aus, dass es ein größerer Kreis ist“

Die Linken-Politikerin Renner erhält seit zwei Jahren Drohungen per Mail. Anfangs kamen sie unter anderem von dem Absender „NationalSozialistische Offensive“ und werden inzwischen dem Rechtsextremisten André M. zugeordnet. Nach der Festnahme von M. und auch nach Beginn des Prozesses gegen ihn schlossen sich weitere Drohmail-Serien an: erst vom „Staatsstreichorchester“, mittlerweile häufen sich Mails von „NSU 2.0“.

„Nach unserer Wahrnehmung sind es verschiedene Täter, die aber miteinander zu tun haben und sich austauschen“, sagt ein Mitarbeiter von Renner. „Wir gehen fest davon aus, dass es ein größerer Kreis ist.“ Die Täter brüsten sich selbst damit, dass sie im Darknet miteinander in Kontakt stehen.

Nicht unwahrscheinlich sei auch, dass mehrere Rechtsextremisten Zugang zu den einzelnen E-Mail-Konten hätten, sagt Renners Mitarbeiter. Markant seien neben den nazistischen und rassistischen Inhalten die sexualisierten Mord- und Gewaltdrohungen. „Die Täter reagieren durchaus auf Berichterstattung, öffentliche Auftritte, auf Veranstaltungen. Die fühlen sich auch dadurch provoziert, dass es Frauen sind, die selbstbewusst und politisch aktiv sind.“

Die Kabarettistin Baydar ist nicht nur wütend, sondern auch frustriert. Seitdem sie ihre Kritik an der Polizei öffentlich gemacht hat, bekommt sie noch mehr üble Zuschriften. „Natürlich denke ich manchmal übers Auswandern nach“, sagt sie. Baydar betont aber auch: Viele Menschen in Deutschland mit Migrationshintergrund hätten diese Möglichkeit nicht.

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