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Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg
© dpa/Christoph Schmidt

Winfried Kretschmann: "Ich bin waschechter Grüner, alles andere ist Geplapper"

Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann spricht im Interview über die Kanzlerin, die Folgen aus dem Terror in Berlin, seinen Kurs und den seiner Partei.

Herr Kretschmann, sind Sie in Ihren Anfangsjahren bei den Grünen eigentlich mal mit der Polizei aneinander geraten?

Ja, 1980 in Gorleben. Ich habe als Parlamentsneuling sogar die Vereidigung von Ministerpräsident Lothar Späth verpasst, weil mir der Protest gegen die Erkundung Gorlebens als Atommüll-Lager wichtiger war. Wir wurden bei der Platzbesetzung damals von der Polizei umringt. Aber richtig aneinander geraten sind wir nicht.

In ihrem ersten Programm stellten die Grünen 1980 „Tendenzen zu einem Polizeistaat“ in Deutschland fest und forderten die „schusswaffenlose Polizei“. Heute setzt die Partei sich für die Einstellung von mehr Polizisten und eine bessere technische Ausstattung ein. Woher der Sinneswandel?

In den Anfangsjahren waren die Grünen Totalpazifisten. Wir haben aber schnell gemerkt, dass das nicht geht. Persönlich kann man Pazifist sein. Aber man kann nicht das Gewaltmonopol des Staates mit einer waffenlosen Polizei durchsetzen. Die Polizisten wären jedem Verbrecher hilflos ausgeliefert.

Hängen die Wahlchancen Ihrer Partei bei der Bundestagswahl von der Glaubwürdigkeit in Sicherheitsfragen ab?

Zweifellos ist der Ruf nach Sicherheit in Zeiten des internationalen Terrorismus sehr viel lauter geworden. Natürlich kann es keine hundertprozentige Sicherheit gegen Selbstmordattentäter geben. Aber der Staat muss versuchen, so viel Sicherheit wie möglich zu gewährleisten, ohne die Freiheitsrechte zu schleifen. Das ist eine schwierige Balance.

Warum traut man den Grünen so wenig Kompetenz bei der inneren Sicherheit zu?

Das hängt mit der Geschichte der Partei zusammen. Die Grünen haben sich immer als Verteidiger der Freiheit verstanden, für Sicherheit waren die anderen zuständig. In einer Regierungsverantwortung geht das natürlich nicht mehr. Erst recht nicht, wenn man den Ministerpräsidenten stellt. Aber wir stellen uns dieser Herausforderung auf allen politischen Ebenen. Um den öffentlichen Eindruck zu korrigieren, würde es vermutlich helfen, wenn die Grünen auch mal einen Innenminister stellen.

Grünen-Chefin Simone Peter hat einen Shitstorm erlebt, weil sie nach dem Polizeieinsatz an Silvester in Köln die Frage aufgeworfen hat, ob die massenhafte Überprüfung von Nordafrikanern verhältnismäßig gewesen sei. Darf man die Frage nach korrekten Polizeieinsätzen nicht mehr stellen?

Ihr Urteil war vorschnell und unklug. Sie hat das eingesehen und korrigiert. Damit ist das für mich erledigt. Vor einem Jahr stand die Polizei in der Kritik, weil sie nicht präsent genug war. Man kann sie nicht ein Jahr später unter Beschuss nehmen, wenn doch alle froh waren, dass es nicht wieder massive Übergriffe gegeben hat. Das heißt nicht, dass man Einsätze nicht hinterfragen darf. Die Polizei muss sich gesetzeskonform verhalten. Das tut sie aber auch in überwältigendem Maße.

Welche Konsequenzen muss die Politik nach dem Berliner Terroranschlag ziehen?

Wir müssen schonungslos untersuchen, welches Behördenversagen und welche Gesetzeslücken dazu geführt haben, dass der Täter den Anschlag ausüben konnte. Danach müssen wir die notwendigen Konsequenzen ziehen. Klar ist, dass wir uns auf die Gefährder konzentrieren müssen, die bereit sind, solche Taten zu begehen. Wir müssen die Überwachung intensivieren und die Regelungen für die Abschiebehaft verschärfen.

Gehören potenzielle Attentäter ins Gefängnis, wie Ihr Parteikollege, der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, sagt?

Wir können schon heute Personen in Haft nehmen, von denen eine hochgradige Gefährdung ausgeht, etwa weil sie Mitglied einer terroristischen Vereinigung sind. Aber in einem Rechtsstaat können wir niemanden auf einen bloßen Verdacht hin einsperren. Da müssen schon konkrete Erkenntnisse vorliegen, dass es sich wirklich um einen Gefährder handelt, der Anschläge plant. Für diese Fälle müssen wir die Gründe für eine mögliche Haft präzisieren. Wir sind bereit, dabei notfalls an die Grenzen des verfassungsrechtlich Möglichen zu gehen.

Innenminister de Maizière und Justizminister Maas wollen nicht nur die Abschiebehaft ausweiten, sondern auch elektronische Fußfesseln einsetzen. Lassen sich so Anschläge verhindern?

Über elektronische Fußfesseln kann man nachdenken. Ich werde keinen Vorschlag reflexhaft ablehnen. Klar ist, dass ein einzelnes Instrument nicht das Problem lösen kann. Nachteilig könnte sein, dass der Betroffene weiß, dass er beobachtet wird, wenn er eine Fußfessel tragen muss. In Frankreich ist außerdem ein katholischer Priester ermordet worden durch jemanden, der eine Fußfessel trug. Trotzdem können Fußfesseln sinnvoll sein. Man muss das sorgfältig prüfen.

Die beiden Minister drohen Tunesien mit der Kürzung von Entwicklungsgeldern. Muss Deutschland mehr Druck auf Länder ausüben, aus denen Attentäter kommen?

Mit solchen Ansagen erreicht man nichts, dadurch verstärkt man nur die Fluchtursachen. Man muss mit diesen Ländern hart verhandeln, aber auch kooperieren. Den islamistischen Terror werden wir ohnehin nur besiegen können, wenn wir die islamistische Ideologie besiegen. Und dafür gilt es, auch präventiv zu arbeiten. Wir müssen dafür sorgen, dass die jungen Leute nicht zu Terroristen werden. In Deutschland genauso wie in Tunesien.

Anis Amri konnte den Anschlag durchführen, obwohl er im Visier der Sicherheitsbehörden war. Staatsversagen?

Nein, von Staatsversagen kann nicht die Rede sein. Fehler werden immer gemacht, manchmal auch schwere, und die müssen wir beheben. Wir müssen die Zusammenarbeit der Behörden und den europäischen Informationsaustausch verbessern. Im Moment wissen wir zum Beispiel oft nicht, ob jemand Vorstrafen in einem anderen Land hatte.

Sie sind bisher der einzige Grüne, der bereit ist, im Bundesrat die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, obwohl die Menschenrechtslage in diesen Ländern problematisch ist. Wie können Sie das mit grünen Prinzipien vereinbaren?

Aus dem Maghreb werden nur etwa ein Prozent der Asylbewerber anerkannt. Das ist ein Hinweis darauf, dass diese Länder im Sinne der Asylgesetzgebung als sicher eingestuft werden können. Wir wissen, dass dort bestimmte Gruppen wie Homosexuelle und Journalisten in einer prekären Situation sind. Wir konnten im Frühsommer 2016 aber erreichen, dass die Bundesregierung bereit ist, in einer Protokollerklärung klarzustellen, dass Menschen aus diesen vulnerablen Gruppen keinerlei Nachteil beim Asylverfahren haben sollen. Ich finde, das ist ein guter Kompromiss.

Baden-Württemberg hat sich vor Weihnachten an einer Sammelabschiebung von abgelehnten Asylbewerbern nach Afghanistan unter Federführung des Bundes beteiligt. Jetzt zeigen sich auch andere Länder mit grüner Regierungsbeteiligung offen für Abschiebungen an den Hindukusch. Zufrieden?

Die Lage in Afghanistan ist nicht so, dass man skrupellos Menschen abschieben kann. Aber es ist Aufgabe der Bundesregierung, festzustellen, in welche Länder abgeschoben werden kann. Bislang kommt sie zum Schluss, dass Menschen aus Afghanistan in bestimmte Regionen dieses Landes rückgeführt werden können.

Einige Hilfsorganisationen zweifeln das aber an.

Ich und meine Länderkollegen erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Lage seriös und aktuell beurteilt. Das liegt nicht in unserer Kompetenz und auch nicht in unserer Verantwortung. Wir haben nur wenig Ermessensspielraum, der bezieht sich insbesondere auf die Auswahl der Personen, hier können wir nach humanitären Grundsätzen entscheiden. In erster Linie werden Straffällige und Gefährder abgeschoben.

Wo verläuft für Sie denn die Grenze zwischen gebotenem Pragmatismus und Opportunismus?

Jede dieser Abschiebungen war sorgfältig geprüft. Deutschland ist auch deswegen ein starker Staat, weil bei uns die Rechtsstaatsprinzipien sehr ernst genommen werden. Dazu gehört auch, dass das Asylrecht keine Obergrenze kennt, darauf weist die Bundeskanzlerin zu Recht hin. Wer verfolgt ist oder aus einem Bürgerkriegsland fliehen muss, dem gewähren wir Schutz. Alle anderen müssen in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. An diese Linie sollten sich alle halten, die Verantwortung tragen.

Aus den Reihen der Grünen kommt der Vorwurf, Merkel habe ihre humanitäre Flüchtlingspolitik längst verraten. Sehen Sie das auch so?

Nein. Deutschland hat im letzten Jahr fast zwei Drittel der Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Wir sind das weltoffenste und liberalste Land der Welt. Die Kanzlerin hat ihre Linie in der Flüchtlingspolitik nicht verraten. Im Gegenteil. Sie verteidigt ihren Kurs auch gegen Widerstand in den eigenen Reihen. Dabei hat sie meine volle Unterstützung.

Beten Sie noch für die Gesundheit von Angela Merkel?

Nehmen Sie das nicht so wörtlich. In der europäischen Krise ist Angela Merkel ein Stabilitätsanker. Wir brauchen sie als erfahrene Krisenmanagerin. Das wollte ich damit sagen. Selbst bei den europäischen Regierungschefs, die mit ihrem Kurs nicht einverstanden sind, genießt sie Autorität und Ansehen. Wer sonst sollte Europa in so einer Situation zusammenhalten?

Wenn Angela Merkel für Europa so wichtig ist, dann müssten die Grünen im Bund doch für Schwarz-Grün eintreten, oder?

Unser Kurs der Eigenständigkeit ist keine Floskel, sondern nötiger denn je. In den Ländern regieren die Grünen in sieben verschiedenen Koalitionen. Es wäre verkehrt, für den Bund etwas auszuschließen. Bei der letzten Bundestagswahl haben die Vorfestlegungen uns die Regierungsbeteiligung gekostet. Darüber habe ich mich nicht gefreut. Bei der Energiewende wären wir deutlich weiter, wenn die Grünen auch im Bund regieren würden.

Was könnte Schwarz-Grün im Bund besser als andere Koalitionen?

In der grün-schwarzen Koalition in Baden-Württemberg kommen die Partner von unterschiedlichen Polen der Gesellschaft. Das birgt auch Chancen: Den Zusammenhalt der Gesellschaft bekommt man in so einer Konstellation vielleicht besser hin als in einer Lagerkoalition mit der SPD.

In den Umfragen sind die Grünen inzwischen auf neun Prozent abgesackt. Was raten Sie?

Wir müssen uns wieder stärker auf unsere Kernkompetenzen konzentrieren. Der Klimawandel gehört zu den größten Bedrohungen der Menschheit. Es ist eine hoch aktuelle Frage, wie wir die ökologische Transformation so bewerkstelligen, dass unser Wohlstand erhalten bleibt. An diesem Profil muss die Bundespartei noch arbeiten, da haben wir im Moment einen Hänger. Ich rechne aber damit, dass es nach dem Ende der Urwahl einen Schub geben wird.

Hat die Spitzenkandidatensuche dazu geführt, dass die Grünen sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt haben?

Die Urwahl ist ein innerparteilicher Vorgang. Das führt immer zu Richtungskämpfen. Wenn die Wahl vorbei ist, brauchen wir wieder mehr Geschlossenheit. Ohne Geschlossenheit kann man keine Wahlen gewinnen.

Manche unterstellen Ihnen, Sie seien in Wahrheit ein Schwarzer. Gibt es noch einen Unterschied zwischen den Grünen in Baden-Württemberg und der CDU?

Was für eine Frage. Der Erhalt unserer Lebensgrundlagen ist grünes Kernthema. Heute machen zwar alle Parteien ein bisschen Umweltschutz, aber sie haben dabei ganz andere Prioritäten als wir. Ich habe die Partei mitbegründet. Ich bin ein waschechter Grüner, alles andere ist dummes Geplapper.

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