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Geht doch beides. Bei großen Fußballturnieren werden doppelte Identitäten sichtbar.
© Imago/Seeliger

Leserkommentar zu Erdogan: "Ich bin noch keinem Nazi über den Weg gelaufen"

Nazivergleiche der türkischen Regierung haben viele empört. Zurecht, findet unser deutsch-türkischer Leser - und fordert gerade jetzt Zusammenhalt.

Ich bin fassungslos und traurig. Als ich die verbalen Entgleisungen der türkischen Regierung gehört und gelesen habe, überkam mich eine bittere Enttäuschung und Verzweiflung. Was dieser Mann von sich gibt, beschämt mich zutiefst.

Ich bin türkischstämmig, in Berlin geboren und aufgewachsen, habe hier meinen Lebensmittelpunkt, meine Familie, meine Freunde, die überwiegend deutsch sind, meine Kunden, die zu 99 Prozent „Nichttürken“ sind und lese nun den Nazivergleich!

Ja, in letzter Zeit häufen sich rassistische Parolen und die AfD hat Hochkonjunktur. Aber seht ihr auch, was die deutsche Regierung macht? Sie stemmt sich gegen diese Hetzer, gegen die AfD, gegen die NPD, gegen Fremdenfeindlichkeit. Und kommt mir jetzt bitte nicht mit „sie tut nichts“. Oh doch, sie tut eine ganze Menge. Ihr könnt bloß nicht sehen, was ihr nicht sehen wollt. Unsere deutschen Freunde stemmen sich gegen Rassismus und Intoleranz, sie geben uns Mut, sie stehen uns bei.

In meinen fast 45 Jahren in Deutschland bin ich noch keinem Nazi über den Weg gelaufen, wurde weder beleidigt noch angegriffen. Ganz im Gegenteil. Diese Freundlichkeit, diese Offenheit mir gegenüber, diese Hilfsbereitschaft, die ich hier erleben durfte, habe ich in keinem anderen Land bisher erlebt (Urlaub zählt nicht dazu). Ich durfte meine Muttersprache (in diesem Fall meine ich wirklich die Sprache meiner Eltern und nicht die Sprache des Landes, in dem ich aufgewachsen bin) frei sprechen, wurde weder ausgegrenzt noch schikaniert, durfte mich auch frei und kritisch gegenüber der Regierung dieses Landes äußern, ohne Angst haben zu müssen, in ein Gefängnis gesperrt und gefoltert zu werden. Es macht mich sehr glücklich, hier geboren zu sein und das Privileg zu haben, in diesem wunderschönen Land leben zu können. Ich schreibe bewusst „können“ und nicht „dürfen“, denn ich bin ein Teil dieser Gesellschaft. Als Deutscher mit türkischen Wurzeln.

Verzeiht, aber so läuft das Spiel nicht

Ja, ich bin in und mit beiden Kulturen aufgewachsen, spreche beide Sprachen perfekt, und das war immer ein Segen. Und ja, ich liebe Deutschland, genauso wie ich auch die Türkei liebe. Ich bin Türke und Deutscher!

Leider sehe ich viele, die sich über das Leben in Deutschland beschweren, aber nicht verlegen sind, soziale Hilfeleistungen oder medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Verzeiht bitte, aber so läuft das Spiel nicht. Ich sehe ausländische Jugendliche, die sich abfällig und völlig taktlos über Deutsche äußern. Aber der Knaller ist: Sie machen das auf Deutsch, weil sie die Sprache ihrer Eltern nicht beherrschen. Denkt mal darüber nach.

Leider gibt es auch in deutschen Familien einige Personen, die nach der Schule, sofern sie diese beendet haben, nie in ihrem Leben auch nur einen Tag gearbeitet haben, sich Monat für Monat beim Amt melden und die Schuld bei Ausländern suchen, die ihnen angeblich die Arbeit wegnehmen – und natürlich auch die deutschen Frauen. Wenn ein Ausländer oder gar ein Flüchtling, völlig fremd in diesem Land, ohne deine Muttersprache zu beherrschen, dir deine Arbeit wegnehmen kann und (d)eine deutsche Frau, dann scheinst du irgendwas falsch zu machen. Ein Flüchtling schafft es, mehrere tausend Kilometer unter Todesangst zu fliehen und dir deine Arbeit wegzunehmen und auch noch deine potenzielle Partnerin ... Alter Falter! Denk mal nach! Suche die Schuld nicht bei anderen. Fang bei dir selbst an! Übrigens, das gilt für alle, die so denken.

Was ich diesem Land zu verdanken habe

Wer ich bin, was aus mir geworden ist, habe ich diesem Land, dieser Regierung, dieser Demokratie zu verdanken. Meine Kinder wachsen wohlbehütet auf, ohne sich Sorgen um ihr Leben machen zu müssen. Sie haben genug zu essen, genug Kleidung am Leib, sie erhalten kostenlose Bildung (sicher kann man hier noch einiges zum Positiven verändern), haben Annehmlichkeiten, von denen sogar einige westliche Länder träumen. Natürlich läuft nicht alles so, wie man es sich wünschen würde, aber es läuft besser als vielerorts.

"In der Türkei weht ein anderer Wind"

All denen, die meinen, dass die Türkei um Welten besser ist als Deutschland, dass es sich dort viel besser leben lässt, die die AKP von Deutschland aus wählen wollen, möchte ich Folgendes sagen: Versucht doch ein neues Leben in der Türkei aufzubauen. Ihr werdet ganz schnell merken, dass der Wind, der derzeit dort weht, ein ganz anderer ist und nur wenige es schaffen, sich an die dortigen Gepflogenheiten anzupassen. Ihr wollt eine Partei wählen, mit der ihr im „deutschen Alltag“ nichts zu tun habt, bis auf eure sechs Wochen Urlaub im Jahr? Warum engagiert ihr euch nicht in der deutschen Politik, wenn ihr etwas verändern wollt?

Ihr lebt in Deutschland, arbeitet hier, eure Kinder gehen hier zur Schule, sprechen besser deutsch als türkisch, und dann wollt ihr mir erzählen, dass ihr euch in der Türkei wohler fühlt, weil der Urlaub immer so toll ist und die Pfirsiche dort besser schmecken als die von Aldi? Im Urlaub ist alles schön.

Türkei, Deutschland - ich gehöre zu beiden

Ich wähle eine Partei in Deutschland, weil ich hier lebe, weil mich die Politik dieses Landes interessiert und weil sie mich direkt betrifft. Hier möchte ich einiges mitbestimmen, einiges bewegen. Viele werden mir vermutlich entgegnen, dass sie ja hier nicht wählen dürfen, weil sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht haben. Nun denn, der deutsche Staat verwehrt einem die Staatsbürgerschaft nur, wenn handfeste Gründe vorliegen, wie zum Beispiel nicht ausreichende Sprachkenntnisse, Missachtung der Verfassung, Vorstrafen etc. Der neue Eignungstest ist ein Desaster und in manchen Bereichen erniedrigend, aber so ist es nun mal. Nimm es oder lass es sein!

Als ich 1994 eingebürgert wurde, gab es absolut keinerlei Probleme.

Ich besitze offiziell beide Staatsbürgerschaften. Ja, richtig gelesen, offiziell und beide! Das war 1994 so. Wie schön, dass ich mich nicht entscheiden musste. Muss ich Türke sein oder Deutscher? Muss ich mich zu einer dieser Nationalitäten bekennen, um dazuzugehören? Nein, muss ich nicht, und ich wurde auch nie vor die Wahl gestellt. Ich gehöre zu beiden. Daran gibt es nichts zu rütteln – und darüber bin ich froh. Stolz wäre der falsche Ausdruck, denn es ist ja nicht auf meinem Mist gewachsen. Der Zufall wollte es so. Stolz kann man auf etwas sein, was man selbst geschaffen oder mitgestaltet hat.

"Die Politik darf uns nicht entzweien"

Wäre es mir in einem anderen Land besser oder schlechter ergangen? Wäre ich heute ein Bettler oder gar Millionär? Keine Ahnung, und es ist müßig, darüber nachzudenken, denn ich bin nun mal hier geboren und aufgewachsen.

Einige werden mich sicher als „Türkenverräter“, als „deutsche Kartoffel“ betiteln, aber es ist die Freiheit, mein Grundrecht, welches ich in diesem Land besitze, mein Missfallen zu gewissen Dingen zu äußern, ohne Angst haben zu müssen.

Der Großteil der Türken hier fällt nicht auf

Es gibt Problemfälle auf beiden Seiten. Ausländer, die sich nicht anpassen wollen oder möchten, und es gibt Deutsche, deren braunes Gedankengut anscheinend tief in der DNA verwurzelt ist und die den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.

Um es mal klarzustellen: Diejenigen, die negativ auffallen, sich nicht an die Richtlinien und Gesetze dieses Landes halten, aus der Reihe tanzen, sind wenige, aber leider fallen genau diese ins Auge und beschmutzen das Ansehen der hier hart arbeitenden türkischen Bevölkerung. Der Großteil der hier integrierten Türken fällt nicht einmal auf, weil sie einfach zur Gesellschaft dazugehören. Sie sind Unternehmer, Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Politiker, Automechaniker, Imbissbesitzer oder was auch immer. Sie erwirtschaften Milliarden in diesem Land und geben diese auch zum größten Teil in diesem Land aus. Sie schaffen Arbeitsplätze. Ob manche es wahrhaben wollen oder nicht. Es ist so! Es bleibt so! Sie sind ein Teil Deutschlands!

Lasst uns füreinander da sein

Mein Wunsch ist es, dass wir füreinander da sind – nicht gegeneinander. Dass wir gemeinsam an einem Strang ziehen. Von daher mein Appell an alle hier lebenden, eingegliederten, integrierten Türken, meine Landsleute: Zeigt den hier lebenden Menschen, dass wir anders sind, als einige denken, dass wir gastfreundlich und entgegenkommend sind, dass wir allen die Tür öffnen, die Einlass erbitten, die dich, mich, uns, euch kennenlernen möchten. Zeigt ihnen unsere türkische Teekultur, serviert ihnen Künefe oder Baklava (und ladet mich dazu ein, denn ich liebe Künefe), zeigt ihnen unser Leben, lasst sie ein Teil eures, unseres Lebens werden.

Und an meine deutschen Landsleute, zeigt, dass ich mich nicht irre, dass Deutschland ein tolerantes Land ist, ihr neben deutschen, französischen und italienischen Freunden auch türkische Freunde habt, dass ihr füreinander da seid, dass ihr sie nicht ausgrenzt oder vor ihnen Angst habt. Ladet doch einmal eure noch unbekannten türkischen Nachbarn zu Kaffee und Kuchen ein (nein, sie müssen kein Schweinefleisch essen, um sich anzupassen).

Und habt keine Angst vor ihnen, weil sie Moslems sind. Moslem sein ist nicht ansteckend und kein praktizierender Moslem ist Terrorist. Oder sind etwa alle Deutschen Nazis? Nein, sind sie nicht. Ein Terrorist ist nichts anderes als ein Terrorist. Nicht mehr, nicht weniger! Keine Religion, keine Nationalität!

Lasst die Politik und Vorurteile in den Köpfen uns nicht entzweien. Lasst uns gemeinsam auf die Straßen gehen, um nicht gegeneinander zu protestieren, sondern um füreinander da zu sein. Für ein Leben miteinander! Für mehr Toleranz und Akzeptanz.

Dieses Land ist das Land derer, die es als Heimat ansehen.

Deutschland ist kein Naziland!

Deutschland ist meine Heimat!

Baris Cihan

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