Moralische Panik im Corona-Jahr: Hört auf, die Jugend zum Corona-Sündenbock zu machen!
Einige Ältere hacken so genüsslich auf der Jugend von heute rum, als seien die Fünfziger Jahre zurück. Nach Fakten fragt niemand – wie kindisch. Ein Kommentar.
Wo eine Krise, da ist ein Sündenbock nicht weit. Das zeigt auch die Corona-Pandemie wieder: Wann immer es einen Neuinfektionsausbruch gab, hatte jeder schnell den Schuldigen zur Hand, der ihm in den Kram passte. Wer sich an Einwanderern stört, war sicher: Sie verbreiten das Virus. Sei es, weil sie auf engem Raum zusammenleben, sei es, dass sie in ihren Heimatländern Familien besuchten oder als Niedriglöhner Fleisch in Fabriken zerlegen.
Wer von Touristen und Rollkoffergeräuschen auf Berliner Kopfsteinpflaster genervt war, bekam mit der Pandemie die ideale Gelegenheit, Hotelschließungen und damit endlich Ruhe von fremdsprachigem Trunkenheitsgegröle in seinem Kiez zu fordern. Konsumkritiker:innen verwiesen auf den möglichen Infektionsherd Einkaufscenter und verlangten einen Shopping-Stopp. Andere frohlockten, als Landkreise mit hohem AfD-Wähler:innenanteil Infektionsherde wurden. Und dann war da noch der Sündenbock, der seit Jahrzehnten immer ganz oben im Klischeebaukasten liegt: die „Jugend von heute“.
Wem junge Leute ein Dorn im Auge sind, der zeterte in diesem Jahr vor allem über deren Feierwütigkeit und beschuldigte sie des rücksichtslosen Hedonismus. Das zieht sich durch die ganzen Corona-Monate. Und steht im offenkundigen Kontrast zur Akzeptanz und Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahmen unter Jugendlichen, die laut einer repräsentativen Studie der Tui-Stiftung hoch sind. Ein Fünftel von ihnen würde sich sogar strengere Maßnahmen wünschen.
In Krisenzeiten auf den Jüngsten herumhacken – warum lässt eine sich für erwachsen haltende Gesellschaft sich zu so etwas Kindischem hinreißen?
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"Moralische Panik": So läuft der gesellschaftliche Verurteilungs-Reflex ab
In der Soziologie gibt es einen Begriff für den gesellschaftlichen Reflex zur Sündenbocksuche: moralische Panik. Der britische Soziologe und Kriminologe Stanley Cohen prägte ihn 1972. Moralische Panik, schrieb er, trete auf, wenn „ein Zustand, eine Episode, Person oder eine Gruppe als Bedrohung für gesellschaftliche Werte und Interessen definiert wird“. Sie beginnt mit Befürchtungen darüber, wie eine Gruppe sich verhalten könnte. Etwa: „Die Jugend, die ist doch immer am Feiern, lehnt Regeln ab und denkt sowieso nur an sich selbst. Die hält sich bestimmt nicht an die neuen Corona-Regeln!“
In der Theorie ist das in diesem Fall mehr als plausibel: Social Distancing macht genau den Lebensstil zur Bedrohung für die öffentliche Gesundheit, der ein Coming-of-Age in Deutschland ausmacht. Viele ältere Menschen, Medien, Politiker:innen echauffierten sich deshalb gerne und häufig über die vermeintlich rücksichtslose Jugend, die heimlich Corona-Partys feiere (und auch noch den Dreck liegenlasse!), die Pandemie nicht ernst genug nehme und so antreibe.
Rücksichtslos und feierwütig?
Zwar war die Covid-Inzidenz unter 15- bis 34-Jährigen in Teilabschnitten des Sommers und auch im Herbst hoch, wie Daten des Robert-Koch-Instituts zeigen. Doch die Öffentlichkeit ist Belege dafür schuldig geblieben, dass das an Partys lag oder daran, dass die Pandemie nicht ernst genommen wurde. Nur zu gern wird vergessen, dass es für die hohen Infektionszahlen unter jungen Menschen andere plausible Erklärungen gibt.
Zum Beispiel, dass Kinder und Jugendliche täglich an einen Ort gingen, an dem viele Haushalte in Kontakt kommen: die Schule. Das haben aber nicht sie selbst, sondern die Erwachsenen so entschieden.
Plötzlich ist jede ausgehobene illegale Party eine Schlagzeile
Ist beispielsweise die Befürchtung, dass Teenager das Wohl der Gesellschaft aus pubertistischer Selbstfixiertheit nicht im Blick hätten, einmal formuliert, wird darüber gesprochen. Die moralische Panik kann dann wie eine selbsterfüllende Prophezeiung wirken: Plötzlich blickt die Gesellschaft mit Adleraugen auf die vermeintlichen Superspreader.
Und wer Bestätigung für die Theorie sucht, findet Einzelfälle, die jetzt allzu gern zur Regel erhoben werden: Jede ausgehobene illegale Party ist eine Schlagzeile, jeder junge Mensch, der im Supermarkt nicht ausreichend Abstand hält, ein Gesprächsthema beim Abendessen.
Nach Zahlen, Daten und Erhebungen zu dem Thema fragt an diesem Punkt kaum jemand mehr, die anekdotische Evidenz scheint zu reichen. Moralische Panik ermöglicht es also gewissermaßen, mit Vorurteilen behaftetes Denken elegant an womöglich störenden Fakten vorbeizumanövrieren.
Teddy Boys, Rocker, Hippies - die Jugend fordert die Gesellschaft heraus
Der Soziologieprofessor Michael Corsten forscht an der Universität Hildesheim zu jungen Erwachsenen in Corona-Zeiten. Dass sich moralische Panik oft an Jugendlichen entlade, erklärt er damit, dass grundsätzlich in der Jugend expressives Verhalten ausprobiert werde. Das zeige auch die Geschichte: „Angefangen bei den Teddy Boys, den Rockern und den Hippies gibt es viele Jugendmilieus, die ihre Außergewöhnlichkeit zum Ausdruck gebracht haben und damit provoziert haben – nicht immer mit Absicht.“
Und in der Pandemie führt moralische Panik dazu, dass die Jugend kurzerhand in diese Tradition gestellt wird, unabhängig von ihrem Verhalten: „Jetzt klebt den Jugendlichen ein Etikett an, das sie gar nicht annehmen wollen“, sagt Corsten.
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Eigentlich müsste die Gesellschaft sich bei der Jugend erkenntlich zeigen - und sie schützen
Die moralische Panik gegenüber Jugendlichen hat ernst zu nehmende Folgen: Der ältere Teil der Gesellschaft manövriert sich an seiner Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation vorbei. Die wäre nämlich: anzuerkennen, was auch Jugendliche in diesem Jahr leisten müssen, und sie dabei zu unterstützen. Und vielleicht sogar etwas Verständnis für Fehltritte zu zeigen.
Schließlich haben junge Leute in den vergangenen Monaten auf vieles verzichtet: Corona hat den ersten Clubbesuch, die erste Reise mit Freunden auf unbestimmte Zeit verschoben, Erstsemester wurden um ihre ersten Hörsaaleindrücke gebracht, für Zigtausende Schulabgängerinnen und -abgänger fielen Abiturfeiern und Auslandssemester aus. Das verpasste Jahr fiel so für sie sogar ungleich stärker ins Gewicht als für Ältere. Letztere zeigen dennoch vor allem eines: ein Empathiedefizit.
Von der Unfähigkeit älterer Menschen, sich in Jugendliche hineinzuversetzen
Auch der Hildesheimer Soziologe Corsten wundert sich über die Unfähigkeit einiger älterer Menschen, sich in die Jugend hineinzuversetzen. Immer wieder begegne ihm das Argument, früheren Generationen sei es doch schlechter gegangen. Das sei eine Abwehrreaktion, sagt Corsten und stellt fest: „Dass andere in der Pandemie womöglich härter von den Maßnahmen betroffen sind als sie selbst, möchten viele nicht hören.“
Vielleicht wäre es also an der Zeit, einen ehrlicheren Blick auf die jungen Menschen zu richten, die vorläufig auch weiter von zukünftigen Partys nur träumen können und so lange in der Kälte um die Häuser ziehen und auf Supermarktparkplätzen ihre ersten Zigaretten rauchen, die Maske immer unterm Kinn – oder eben gleich zu Hause in ihren Zimmern hocken bleiben. Allerdings wäre es voreilig, von einer verlorenen „Generation Corona“ zu sprechen.
Verloren sind die jungen Leute keineswegs, im Gegenteil. Denn, das hört man immer wieder von Eltern und Angehörigen: Die sind ziemlich resilient. Fragt man Jugendliche, hört man oft: Die Einschränkungen nerven ganz schön, aber sie müssen eben sein. Gefolgt von einem Schulterzucken oder ein paar Worten über die Vorfreude auf die Zeit nach dem Virus. So viel Reife würde man manchen ihrer Kritiker auch wünschen.
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