Deutsches Zögern bei Waffenlieferungen: Hofreiter warnt Regierung vor einem „De-facto-dritten-Weltkrieg“
Durch Deutschlands Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine drohe sich der Krieg auszuweiten, sagt der Grüne Hofreiter. Er widerspricht dem Kanzler.
Der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter hat der Bundesregierung vorgeworfen, mit ihrer Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine eine weltkriegsartige Ausweitung des Konflikts zu riskieren. Das Problem der Haltung Deutschlands sei, „dass wir bei den Sanktionen bremsen, bei den Waffenlieferungen bremsen, und damit die Gefahr droht, dass der Krieg sich immer länger hinzieht“, sagte Hofreiter am Mittwoch im ZDF-„Morgenmagazin“.
„Und je näher Putin einem Sieg kommt, desto größer ist die Gefahr, dass sich der Krieg ausweitet. Dass weitere Länder überfallen werden und dass wir in einen De-facto-dritten-Weltkrieg rutschen. Und deswegen müssen wir jetzt alles tun, die Ukraine zu unterstützen“, sagte er.
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Hofreiter wies das unter anderem von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angeführte Argument zurück, Deutschlands Möglichkeiten zu Waffenlieferungen seien begrenzt, weil die ukrainische Armee nicht an den modernen Waffensystemen ausgebildet sei. „Ich finde es etwas paternalistisch, dem ukrainischen Militär zu sagen, ihr könnt damit nicht umgehen“, sagte Hofreiter.
Der Grünen-Politiker traut den ukrainischen Streitkräften die Bedienung von schweren Waffen zu, die seiner Ansicht nach aus Deutschland geliefert werden könnten. „Ich finde es immer wieder interessant wie man einem Militär, das seit sieben Wochen einer Übermacht standhält, erklärt, was es kann und was es nicht kann“, sagte Hofreiter. „Ich vertraue da dem ukrainischen Militär.“
Hofreiter plädierte für eine möglichst schnelle Aushändigung. „Ich war in der Ukraine - da hat man mir gesagt, sie hätten gerne das westliche Material jetzt, damit sie eben genau die Zeit haben, ihre Soldaten an diesem Material zu trainieren“, bevor ihre jetzigen sowjetischen und russischen Waffen kaputtgeschossen sind.
Auch CDU-Chef Friedrich Merz kritisiert Scholz aufgrund seiner Unentschlossenheit. Scholz lasse hierbei viele Fragen unbeantwortet, sagte Merz dem Hörfunksender NDR Info am Mittwoch. „Er spricht jetzt von Listen, die abgearbeitet werden. Aber diese Listen gibt es seit Wochen“. Dazu äußere sich der Bundeskanzler jetzt zum ersten Mal, obwohl er das auch schon früher hätte tun können.
Scholz hatte der Ukraine zugesagt, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie zu finanzieren. „Wir haben die deutsche Rüstungsindustrie gebeten uns zu sagen, welches Material sie in nächster Zeit liefern kann“, sagte der Kanzler am Dienstag. Die Ukraine habe sich nun von dieser Liste eine Auswahl „zu eigen gemacht“.
Merz erkläre sich das vorsichtige Vorgehen des Kanzlers damit, dass es in der SPD-Fraktion „massiven Widerstand“ gegen Waffenlieferungen aus der Bundeswehr heraus gebe. „Und der Bundeskanzler weicht diesem Thema aus, weil er Angst davor hat, dass in seiner eigenen Fraktion offener Widerspruch dagegen geäußert wird.“
Der Unions-Fraktionsvorsitzende geht zudem nicht davon aus, dass Waffenlieferungen eine Eskalation bis zu einem Atomkrieg beförderten. „Die Eskalation geht ausschließlich von Russland aus. Und es ist völkerrechtlich völlig unumstritten, dass die Hilfe zur Verteidigung kein Kriegseintritt ist. Das sagt übrigens auch der Bundesjustizminister - der sagt das sehr klar und deutlich.“ Weil der Krieg die Freiheit hierzulande gefährde, müsse er beendet werden, betonte Merz. „Und daher müssen wir der Ukraine mehr helfen, als wir es gegenwärtig tun.“
Baerbock: Gepanzerte Fahrzeuge „kein Tabu“
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hält schnelle weitere Waffenlieferungen an die Ukraine für erforderlich. „Die Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine ist nicht nur gegeben, sondern auch dringlich“, sagte der Grünen-Politiker der „Rheinischen Post“ am Mittwoch. Ausdrücklich begrüße er die von Bundeskanzler Scholz dargestellte Linie.
„Deutschland setzt sich intensiv dafür ein, dass im internationalen Verbund schnell und pragmatisch das Gerät geliefert werden kann, was unmittelbar einsatzfähig ist und in dieser neuen Phase des Krieges gebraucht wird“, erläuterte der Vizekanzler.
Wenn nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums die Möglichkeiten der Bundeswehr selbst an Grenzen kämen, sei es nur konsequent, „quasi Ringtausche zu organisieren: Das, was in anderen Ländern schnell an einsetzbarem Gerät und Waffen jetzt unmittelbar lieferbar ist, wird in die Ukraine geliefert und Deutschland schiebt dann in diese Länder zeitnah Ersatz nach“, betonte Habeck.
Nach Worten von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock wird Deutschland der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland auch mittel- und langfristig militärisch helfen. Aktuell müssten die Nato-Verbündeten die Ukraine in den nächsten Tagen und Wochen unterstützen, sagte die Grünen-Politikerin am Mittwoch nach einem Treffen mit ihrem lettischen Amtskollegen Edgars Rinkevics in der Hauptstadt Riga.
Es gehe aber nicht nur um den akuten Bedarf. „Es geht auch um die nächsten drei Monate und auch um die nächsten drei Jahre. Und hier wird Deutschland mehr beitragen können.“ Deshalb habe die Bundesregierung eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt, damit die Ukraine auch komplexere Waffensysteme beschaffen könne, die dann langfristig wirkten. Deutschland könne dazu die Ausbildung bereitstellen.
Für Deutschland sei auch die Lieferung gepanzerter Fahrzeuge „kein Tabu, auch wenn es in der deutschen Debatte manchmal so klingt“, betonte Baerbock. Solchen Lieferungen habe die Bundesregierung bereits zugestimmt. „Aber kurzfristig ist bei uns nichts vorhanden, was wir jetzt wirklich schnell und unverzüglich liefern können.“ Daher sei mit den Nato- und G7-Partnern ein „Ringtausch“ vereinbart worden, sagte die deutsche Außenministerin. Partner, die schnell Waffen sowjetischer Bauart liefern könnten, erhielten von Deutschland dafür Ersatz.
SPD-Außenpolitiker lobt Scholz
Auch der SPD-Außenpolitiker Michael Roth befürwortete nach Scholz' Ankündigung weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine auch schwere Waffen erneut. „Ich gehe davon aus, dass jetzt auch (schwere) Waffen geliefert beziehungsweise von der Ukraine gekauft werden können, die bislang nicht vorgesehen waren“, schrieb der Vorsitzende des Auswärtigen Bundestagsausschusses am Mittwoch auf Twitter.
„Die Welt wird nicht sicherer und friedlicher, wenn wir uns zurückhalten“, so Roth. Bei einem militärischen Sieg Russlands würden weitere militärische Konflikte, beispielsweise in Moldau, Georgien oder Bosnien-Herzegowina, drohen. Um einen „europäischen Flächenbrand“ zu vermeiden, müssten „EU- und Nato-Staaten die Ukraine rasch, umfangreich und koordiniert weiter militärisch unterstützen“, schrieb Roth. Dabei handele es sich um „keine direkte Kriegsbeteiligung der Nato“.
Anders als Hofreiter lobte Roth den Kanzler: „Gut, dass der Bundeskanzler den Vorschlag aufgreift, Staaten, die sofort Waffen aus russischer/sowjetischer Produktion liefern können, mit modernem Gerät zu unterstützen.“ Dies sei „europäische Teamarbeit“, die der Ukraine sofort helfe. Man müsse sich auf einen längeren Kriegsverlauf einstellen, der auch längerfristige Unterstützung der Ukraine nötig mache. „Russland wird weiterhin mit aller Brutalität zuschlagen und das Land komplett zerstören wollen“, schrieb Roth.
Melnyk kritisiert Ankündigung von Scholz als unzureichend
Zuvor hatte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk die Ankündigung weiterer Waffenlieferungen von Bundeskanzler Scholz bereits als unzureichend kritisiert. Die Äußerungen des SPD-Politikers seien in der ukrainischen Hauptstadt Kiew „mit großer Enttäuschung und Bitterkeit“ zur Kenntnis genommen worden, sagte Melnyk der Deutschen Presse-Agentur.
Zwar begrüße man die Bereitschaft Deutschlands, zusätzliche Finanzmittel für Rüstungsgüter zur Verfügung zu stellen. Es gebe aber nach wie vor viel mehr offene Fragen als Antworten.
„Die These, dass die Bundeswehr der Ukraine nichts mehr zu liefern imstande wäre, ist nicht nachvollziehbar“, sagte Melnyk. Die Truppe habe mehr als 400 Marder-Schützenpanzer, von denen etwa 100 für Ausbildung und Training benutzt würden und daher sofort an die Ukraine übergeben werden könnten.
Außerdem habe die Bundeswehr nach seinen Erkenntnissen etwa 800 Fuchs-Transportpanzer, von denen ein Großteil nicht im Einsatz sei und deswegen in die Ukraine geschickt werden könnte. „Ganz entscheidend wäre auch die Lieferung von Panzerhaubitzen 2000.“ Von diesen Artilleriegeschützen mit großer Reichweite gebe es im Bestand der Bundeswehr etwa 120, sagte Melnyk.
Bundeswehr widerspricht Melnyk
Diesen Äußerungen widersprach die Bundeswehr am Mittwochmorgen. Würde Deutschland sofort einen Teil seiner schweren Waffen an die Ukraine liefern, beeinträchtigte dies die Einsatzfähigkeit innerhalb der Nato-Verpflichtungen mit derzeit 13.000 und im nächsten Jahr 16.000 deutschen Soldaten, erklärte der stellvertretende Bundeswehr-Generalinspekteur Markus Laubenthal im ZDF. „Wir hätten keine Möglichkeit mehr, auf Eventualitäten zu reagieren, und das würde die Verteidigungsfähigkeit doch erheblich schwächen.“
Ein Großteil etwa der Schützenpanzer Marder werde auch herangezogen, um Ersatzteile für den Einsatz bereitzustellen. „Das heißt, wir bedienen uns sozusagen aus der Flotte, damit wir den Teil, den wir dann wirklich einsetzen in unseren Nato-Verpflichtungen und an der Ostflanke der Nato zurzeit, damit wir den auch betreiben können“, sagte der Generalleutnant und wies auf die Materiallücken hin, die im Zuge des früheren Sparkurses bei der Bundeswehr entstanden sind.
Zudem setze die kriegstaugliche Bedienung dieser komplizierten Gefechtssysteme eine gründliche Ausbildung voraus. Es sei nicht so, dass wer irgendeinen Schützenpanzer kenne, dann diese Fahrzeuge auch bedienen könne. Auf die Frage nach der Möglichkeit einer beschleunigten Ausbildung erläuterte er: „Man kann schnell sein, aber dennoch ist es immer noch eine Frage von Wochen. Und zum Zweiten muss dieses Gerät ja auch hergerichtet werden, und es muss versorgbar werden“ mit Ersatzteilen.
Scholz verweist auf limitierte Bundeswehrbestände
Scholz hatte am Dienstagabend deutlich gemacht, dass Waffenlieferungen in die Ukraine aus Bundeswehrbeständen kaum noch möglich seien. „Hier müssen wir inzwischen erkennen, dass die Möglichkeiten, die wir haben, an ihre Grenzen stoßen“, sagte er. Stattdessen kündigte er an, direkte Rüstungslieferungen der deutschen Industrie an die Ukraine zu finanzieren.
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Die Ukraine habe Rüstungsgüter von einer Angebotsliste ausgewählt, „und wir stellen ihr das für den Kauf notwendige Geld zur Verfügung“, sagte Scholz. Darunter seien wie bisher Panzerabwehrwaffen, Luftabwehrgeräte, Munition „und auch das, was man in einem Artilleriegefecht einsetzen kann“. Außerdem könnten Nato-Partner, die Waffen sowjetischer Bauart in die Ukraine liefern, Ersatz aus Deutschland erhalten.
Melnyk beklagte eine mangelnde Abstimmung, was die Anschaffung von Waffen bei der deutschen Rüstungsindustrie angehe. Die Prioritäten der Ukraine seien zu wenig berücksichtigt worden. „Wir fordern die Bundesregierung auf, in dieser entscheidenden Frage mit offenen Karten zu spielen und nicht um den heißen Brei herumreden“, sagte Melnyk. „Jede weitere unnötige Verzögerung kostet weitere Menschenleben.“ (dpa)