Zu hohe Belastung in der Corona-Krise: „Hoffentlich stirbt niemand, weil ich nicht mehr kann“
Kathrin Hüster ist eine der vielen Pflegekräfte, die sich für den „Pflexit“ entschieden hat, also eine Abkehr von ihrem Beruf. Im Interview erklärt sie, warum.
Kathrin Hüster hat 20 Jahre lang als Pflegefachkraft gearbeitet, die letzten acht Jahre auf verschiedenen Intensivstationen in Nordrhein-Westfalen. Ende vergangenen Jahres hat die 40-Jährige ihren Beruf aufgegeben.
Frau Hüster, mitten in der Corona-Pandemie, in der medizinisches Fachpersonal dringend gebraucht wird, haben Sie ihren Job als Pflegefachkraft auf der Intensivstation aufgegeben. Wieso?
Ich konnte nicht mehr. In den letzten zehn Jahren waren wir immer knapper auf Kante genäht. Der Schutz der Mitarbeiter wurde nach und nach vollkommen ausgehebelt. Und dann kam Corona. Es wurde immer mehr, vor allem als Bundesarbeitsminister Hubertus Heil dann das Arbeitszeitgesetz änderte, sodass wir zwölf Stunden arbeiten durften. Auch die elf Stunden Ruhezeiten, die ohnehin nie eingehalten wurden, wurden auf neun reduziert.
Dazu kommt, dass die Anfahrtszeit nicht mit einberechnet ist. Bei mir war das zuletzt eine Dreiviertelstunde, mir blieben also nur ungefähr sieben Stunden zuhause zur Erholung. In der Zeit geht man duschen, isst etwas, redet mit dem Partner über den Tag, fährt runter. Für Schlaf und reine Erholung bleibt da wenig Zeit. Ich kenne Kollegen, die bei einem kurzen Wechsel auf nur zwei Stunden Schlaf kommen, weil die Ereignisse des Tages nachhallen und sie nicht abschalten können. Zeigen Sie mir jemanden, der daran nicht kaputtgeht!
Darüber habe ich im vergangenen Jahr auch mit dem „Spiegel“ gesprochen. Bei meinem damaligen Arbeitgeber habe ich dann gekündigt und unzählige Bewerbungen geschrieben. Aufgrund des Interviews und dem damit verbundenen, nicht anonymen Benennen der schlechten Situation bundesweit wurde ich subjektiv als jemand wahrgenommen, der das System verrät und es gestaltete sich fast unmöglich, eine Anstellung in meinem Beruf zu bekommen. Sehr schnell kam dann aber auch der Wunsch nach Neuorientierung, etwas anderem außer Klinik und Pflege am Bett. Heute arbeite ich in einem medizinnahen Umfeld im Büro. Im Nachhinein war das also meine Rettung.
Wie würden Sie das vergangene Jahr mit Corona beschreiben?
Vor Corona hat man drei Patienten gleichzeitig betreut und kam halbwegs gut über die Runden. Und halbwegs gut ist immer noch schlecht. Aber ich hatte nie Angst, dass ich etwas vergessen habe oder einem Patienten vielleicht geschadet habe.
Mit Covid wurde das anders. Vom Arbeitsaufwand her ist man mit einem Patienten voll ausgelastet, aber wir hatten dann schon mal zwei, im schlimmsten Fall noch einen dritten, und am Ende hat man einfach nur gedacht: Hoffentlich stirbt niemand, weil ich einen Fehler mache, weil ich überarbeitet bin, weil ich nicht mehr kann.
Sie müssen sich überlegen: Wir gehen in dieses Covid-Zimmer mit Vollschutz, Visier, FFP2- Maske, Kittel, Schürze, doppelt Handschuhen. Weil man sich nicht dauernd ausschleusen kann, ist man in diesem Zimmer dann schon mal vier bis sechs Stunden. Ressourcenschonend, da es Zeiten gab, in denen es schlichtweg zu wenig Schutzausrüstung gab. So wurde in der ersten Welle schon die Maskentragedauer in einigen Häusern auf bis zu drei Schichten ausgedehnt. Ich hatte vergleichsweise Glück mit meiner Klinik, die rechtzeitig Material bestellt hatte, bei anderen sah das anders aus.
Was ist so anstrengend an der Arbeit mit einem Covid-Patienten?
Ein Covid-Patient ist wahnsinnig arbeitsintensiv. Da sind erstmal die Grundpflege, das Medikamentenmanagement, die Zugänge. Ein Covid-Patient bekommt hochdosierte Medikamente, um den Kreislauf stabil zu halten, einige dieser Medikamente werden in einem bestimmten Wechselintervall gegeben, und auch dabei muss ich immer den Patienten beobachten und sehen, ob die gewünschte Wirkung eintritt. Der Patient muss gepflegt werden, vielleicht gibt es Probleme mit Ausscheidungen, er muss gelagert und gedreht werden. Absaugen, das Beatmungs-Management bei Covid-Patienten ist sehr aufwendig.
Manchmal sind auch noch chirurgische Eingriffe erforderlich, die vorbereitet werden müssen. Das geht nicht zwischen Tür und Angel, einen Covid-Patienten kann man nicht aus den Augen lassen. Dazu ist immer die Gefahr im Raum, dass der Patient kippt, das passiert von einem Moment auf den anderen und er muss reanimiert werden. Sowas habe ich vorher noch nicht erlebt.
Im Nachbarzimmer liegt dann der nächste Patient, dem es vielleicht schon etwas besser geht, der aber im Delir ist und an seinen ganzen Zugängen manipuliert, sich selbst von der Beatmung abmachen will, weil er es nicht versteht. Das alles schafft man auch nicht in zwölf Stunden, das ist ein Dauerbeschuss, an Aufmerksamkeit, an Mitdenken, an psychischer und emotionaler Forderung.Und das ist nur ein Bruchteil dessen, was wir jeden Tag auf dem Schirm haben mussten.
Gab es ein Schlüsselerlebnis oder einen bestimmten Moment, in dem sie dachten: Jetzt ist es Zeit, zu gehen?
Nein, das war ein schleichender Prozess. Irgendwann ist der Tag da, an dem man denkt, ich kann nicht mehr zur Arbeit, ich will nicht mehr, ich bin fertig. Ich hatte Bauchschmerzen und saß weinend im Auto, den ganzen Weg über, immer wieder. Das passiert ganz vielen von uns. Und alle, die mir davon erzählen, denen rate ich, schreib dich krank, bleib zuhause und denk über deine Situation nach.
Was ist so belastend an dem Beruf?
Immer präsent zu sein und kaum Pausen zu haben, das Körperliche. Ständig vorausschauend denken, den Patienten im Fokus haben, hochemotionale und psychisch belastende Situationen. Und dann kann man alles pflegerische Wissen zusammennehmen und medizinisch anwenden und die Menschen sterben einem trotzdem unter den Händen weg.
Wieso wurde das Personal in der Pandemie nicht aufgestockt, wessen Fehler ist das?
Es gibt kein Personal. Dieser Fachkräftemangel ist hausgemacht. Dass das auf uns zukommen würde, war schon in den 80ern klar, dennoch hat niemand etwas getan. Mein Chef hat gesagt, er würde ja gerne Leute einstellen, aber er findet niemanden. Und es bringt nichts, wenn ich von einer anderen Station welches abziehe, das fehlt dann dort und ist auch nicht für die Intensivstation ausgebildet. Ich habe das über Jahre gelernt, ich kann sofort einschätzen, wenn ein Patient kippt, ob es lebensbedrohlich ist oder nicht.
Vor Jahren, als wir noch genug Pflegepersonal hatten, hätten wir die Pandemie mit links gewuppt, aber so ist es nicht mehr. Ich kenne noch Situationen, da haben wir zu neunt im Frühdienst auf einer Normalstation gearbeitet, heute sind wir auf der gleichen Station mit 40 Patienten zu zweit. Der Pflegeschlüssel liegt auf einer Intensivstation bei 1:3 tagsüber und 1:4 nachts. Aber wenn es sonst kein Bett gibt, dann auch mal 1:5. Wir Pflegekräfte sind auf weiter Flur verlassen und allein.
Irgendwie geht es, man funktioniert. Die erste und die zweite Welle, irgendwie wird auch die dritte gehen, und das ist das Fatale daran. Denn es geht sehr zulasten der Pflegekräfte.
Denken Sie, es werden weitere Pflegekräfte ihren Beruf aufgeben?
Ja, ganz sicher. Es gibt viele, die sagen, sie machen das nicht mehr. Die sagen, solange die Pandemie anhält, bleiben sie noch dabei und dann sind sie weg. Entweder früher in Rente oder jung genug, um sich jetzt noch umorientieren zu können. Der Pflexit ist real. Viele Pflegekräfte müssen gesundheitsbedingt frühzeitig ausscheiden, weil sie sich kaputtmachen. Das wollen sie nicht mehr mitmachen. Und neues Personal zu finden, das wird schwer.
Werden denn seitens der Branche bzw. der Politik noch Anreize geschafft, den Beruf zu ergreifen?
Es wird gelockt mit Laptops, Tablets, sogar mit Netflixabos, weil es keiner mehr machen will. Das zeigt, wie billig man versucht, davonzukommen. Jugendliche, die man versucht, für den Beruf zu begeistern, schauen aber nach Work-Life -Balance und Karrierechancen, Entwicklungsmöglichkeiten haben wir aber fast nicht. Ausbildung, vielleicht noch eine Fachweiterbildung, Stationsleitung, das wars. Wenn sie studieren wollen, dann bitte auf eigene Kosten. Das sind bis zu 50.000 Euro, ohne eine Refinanzierung zu bekommen, wenn man einen Abschluss hat.
Akademisiertes Pflegepersonal senkt nachhaltig die Mortalität, das ist erwiesen. Trotzdem wird es nicht gefördert. Ich war mit 36 am Ende meiner Gehaltsstufe, wen können Sie damit locken? Ein BWLer würde seinem Arbeitgeber den Vogel zeigen. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen, das geht nur mit mehr Personal und mehr Geld, Social Benefits, Karrierechancen, anders wird der Pflexit nicht zu stoppen sein und in einem Pflexodus enden.
Warum geht niemand auf die Barrikaden?
Weil wir keine Lobby haben, die Pflegekräfte sind nicht organisiert. Verdi betont das auch immer wieder. Warum sollen wir uns um euch kümmern? Die Pflegegewerkschaft ist vorhanden, wird aber nicht wahrgenommen. Man baut darauf, dass wir nichts tun. Und es klappt. Das muss man sich mal vorstellen, wir sind mit 1,7 Millionen Menschen die stärkste Berufsgruppe bundesweit, aber zerschießen uns selber, schaffen unsere eigene Pflegekammer wieder ab.
Die Pflege ist ihr eigener Stolperstein. Auch weil es auf den einzelnen Stationen immer wieder Kollegen gibt, die sagen, ist nicht so schlimm. Und genau solche Leute sorgen dafür, dass die Situation nie kippt oder sich wandelt.
Woran liegt es, dass Pflegekräfte nicht organisiert sind?
Zum einen sind es viele Frauen, viele arbeiten in Teilzeit. Ich habe noch bei Nonnen gelernt, da stand die Barmherzigkeit im Vordergrund, für viele gehört die Aufreibung subjektiv gefühlt zu dem Beruf dazu. Und in meiner Generation und den älteren sind viele auch einfach ausgebrannt. Sie haben immer wieder Versprechungen seitens der Politik gehört und am Ende ist nie etwas besser geworden, sondern nur schlechter. Ich kann es ihnen nicht verdenken, dass sie die Hoffnung auf ein besseres Morgen aufgegeben haben und nur noch irgendwie funktionieren.
Auch Politiker loben immer wieder die Barmherzigkeit und das Engagement von Pflegekräften. Ist das falsch?
Ja, weil der Pflegeberuf eine Profession ist. Darüber sind viele Menschen immer noch erstaunt, es gibt ja kaum Berührungspunkte, außer man ist selbst mal im Krankenhaus oder hat pflegebedürftige Eltern. Wow, das macht ihr alles, höre ich dann immer wieder.
Warum haben Sie den Beruf damals ergriffen?
Ich war sehr gerne Krankenschwester. Nicht aus Barmherzigkeit, sondern weil ich weiß, dass ich aktiv jemandem aus einer kritischen Lage helfen kann. Krankenpflege ist ein hochprofessioneller Beruf, in den ich ganz viel Expertise einbringe. Es gibt aber immer noch das Klischee von der Schwester Stefanie, die Kaffee trinkt, sich die Nägel lackiert und nebenbei noch die Eheprobleme vom Chefarzt löst.
Als ich meine Ausbildung angefangen habe, haben sich auf eine Stelle 1000 Leute beworben, die Besten haben die Stelle bekommen. Ich habe mein Abi nachgemacht und angefangen zu studieren, weil ich keine Stelle bekommen habe, so viel Pflegepersonal gab es damals.
Wo sehen sie die Pflege in fünf Jahren?
Im schlimmsten Fall ertragen es alle Kollegen weiter. Meine Hoffnung ist, dass ganz viele gehen und sich der Pflegenotstand verschärft, sonst begreift die Politik es nicht. Wenn sie keine Pflege mehr für die eigenen Eltern bekommen, erst dann wird vielleicht etwas passieren. Das System müsste komplett zusammenbrechen.
Wie geht es Ihnen heute mit Ihrem Bürojob?
Ich habe keinen Schichtdienst mehr, die Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln, eine wesentlich bessere Bezahlung, keine Arbeit am Wochenende und an Feiertagen. Ich kann nachts bei meiner Tochter sein, schlafe wieder durch und wache nicht panisch auf, weil ich etwas vergessen habe und Angst habe, jemandem nachhaltig geschadet zu haben. Es ist ein besseres Leben.