21. Verhandlungstag im NSU-Prozess: Enver Simsek wurde regelrecht hingerichtet
Enver Simsek, erstes mutmaßliches NSU-Opfer, wurde regelrecht hingerichtet. Am Mittwoch, dem 21. Verhandlungstag im NSU-Prozess, berichteten zwei Polizeibeamte von den grauenhaften Details. Die Waffe, eine Pistole Ceska 83, sollen die Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten S. beschafft haben.
Am 21. Tag im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München haben Polizisten grauenhafte Details aus dem Mordfall Simsek berichtet. In Kopf, Schulter und Rücken des türkischen Blumenhändlers steckten Projektile, berichteten am Mittwochvormittag zwei Beamte der Nürnberger Kriminalpolizei. Die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatten Enver Simsek am 9. September 2000 an einer vielbefahrenen Schnellstraße im Süden Nürnbergs regelrecht hingerichtet. Der Mord war der mutmaßlich erste in der Serie der neun tödlichen Angriffe auf Migranten türkischer und griechischer Herkunft.
Simsek, der einen Blumenstand an der Straße aufgebaut hatte, wurde beschossen, als er gerade in seinem Transporter stand. Laut Anklage haben Mundlos und Böhnhardt in das Fahrzeug hinein neun Schüsse abgegeben. Ein Projektil wurde nie gefunden, es hatte das Dach des Transporters durchschlagen. Simsek erlag zwei Tage nach der Tat im Klinikum Nürnberg seinen schweren Verletzungen.
Im Krankenhaus ging eine Ärztin offenbar sorglos mit einem der Projektile um, die bei Simsek gefunden wurden. Die Frau habe ein Geschoss, das aus der Kleidung Simseks herausgefallen sei, tagelang mit sich herumgetragen, sagte ein Kriminalbeamter. Er holte das Projektil dann am 12. September 2000 ab. Es handelte sich um ein Geschoss, dass Mundlos oder Böhnhardt aus einer Pistole der Marke Bruni auf Simsek abgefeuert hatte.
Die Neonazis schossen ebenfalls mit der Pistole Ceska 83, die sie dann auch bei den weiteren acht Morden an Migranten einsetzten. Die Ceska sollen die Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten S. beschafft haben. Carsten S. hat im Juni in seinem Geständnis berichtet, er habe im Frühjahr 2000 die Waffe Mundlos und Böhnhardt in einem Abbruchhaus in Chemnitz übergeben. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe hielten sich in der sächsischen Stadt versteckt, nachdem sie im Januar 1998 aus Jena verschwunden waren.
Am Mittag sagte ein Rentner aus, der zusammen mit seinem Sohn die Tat kurz von seinem Fahrzeug aus gesehen hatte – offenbar ohne zu begreifen, was sich abspielte. Er habe beim Vorbeifahren „drei, vier harte metallische Schläge“ gehört, sagte der Zeuge. Gleich darauf hätten sich zwei junge Männer in Radlerkleidung von dem Lieferwagen des Blumenhändlers wegbewegt. Der Rentner empfand den „Vorgang“ als „absolut ungewöhnlich“, fuhr aber weiter. Er meldete sich zwei Tage später bei der Polizei, nachdem er in einer Zeitung über die Schüsse gelesen hatte.
Mehr Aufmerksamkeit zeigte ein Rettungssanitäter, der an Simseks Stand Blumen kaufen wollte. Da er keinen Verkäufer sah, habe gewartet, sagte der Mann am Mittwochnachmittag im Gericht als Zeuge. Dass der sterbende Simsek in dem Transporter lag, hatte der Sanitäter nicht sehen können - Mundlos und Böhnhardt hatten offenbar die Schiebetür zugezogenen. Zuvor hatten sie, wie in dem Paulchen-Panther-Video des NSU zu sehen ist, ihr Opfer noch fotografiert.
Als der Blumenhändler nach zehn Minuten nicht erschien, habe er bei der Polizei angerufen, sagte der Sanitäter, denn die Situation „kam mir komisch vor“. Ein Paar, das auch Blumen kaufen wollte, sei wieder weggefahren. Die Polizei zeigte aber auch kein Interesse. Ein Beamter habe ihm mitgeteilt, vor nicht allzu langer Zeit sei eine Streife vorbeigefahren und habe den Blumenhändler gesehen, sagte der Zeuge. Dennoch wartete er weiter und suchte die Umgebung ab, „ich habe auch gerufen“. Als sich nichts tat, telefonierte er wieder mit der Polizei. Dann sei „relativ schnell“ eine Streife gekommen.
Die Polizisten öffneten den Transporter und sahen Simsek in einer Blutlache liegen. Der Sanitäter versuchte, den Türken zu versorgen und holte eine Absaugpumpe aus seinem Auto. Er habe einen Schlauch in Simseks Mund eingeführt und Blut abgesaugt, „um die Atmung aufrecht zu halten“, sagte der Zeuge. Da er in dem Transporter Projektile gesehen habe, sei ihm rasch klar geworden, dass der Blumenhändler Opfer eines Überfalls geworden sei. Ein Notfalltransporter brachte Simsek ins Klinikum Nürnberg, wo er aber nicht mehr zu retten war.
Simseks Ehefrau Adile saß am Mittwoch im Gerichtssaal. Als der Sanitäter seine Aussage gemacht hatte, sei sie zu ihm gegangen und habe sich bedankt, sagte Simseks Anwältin Seda Basay nach dem Ende des Verhandlungstages. Das sei für Adile Simsek eine Herzensangelegenheit gewesen. Frau Simsek stand neben der Anwältin und war nicht in der Lage, viel sagen. Anwältin Basay berichtete, Simsek habe vor der Verhandlung geweint und Beruhigungstabletten genommen. Es sei das zweite Mal, dass Simsek an dem Prozess teilnehme. Beim Beginn am 6. Mai sei sie auch gekommen.
Die Anwältin betonte, Enver Simsek sei jahrelang zu Unrecht verdächtigt worden, an seinem Tod nicht unschuldig zu sein. Die Polizei hatte lange untersucht, ob Simsek in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen sein könnte. Adile Simsek sagte dann kurz, sie hoffte darauf, „dass das Gericht die Sache aufklärt, wie mein Mann umgebracht wurde“. Auf die Fragen von Journalisten, wie sie die Angeklagten empfinde, schaltete sich wieder Anwältin Basay ein. Adile Simsek empfinde das Verhalten von Beate Zschäpe als „nicht angemessen“, da sie „zwischendurch kichert“. Von der Angeklagten könne man verlangen, „dass sie ernst bleibt“.