Amnesty International kritisiert Erdogan: Hinweise auf Folter in der Türkei
"Berichte von Misshandlungen inklusive Schlägen und Vergewaltigung in Polizeigewahrsam sind extrem alarmierend", heißt es bei Amnesty International.
Amnesty International hat nach eigenen Angaben „glaubwürdige Hinweise“ auf Misshandlungen und sogar Folter von festgenommenen Verdächtigen in der Türkei. Die Menschenrechtsorganisation forderte die Türkei am Sonntag auf, unabhängigen Beobachtern Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, in denen die mehr als 13.000 Verdächtigen festgehalten würden. Aus der türkischen Regierung wurden die Vorwürfe vehement zurückgewiesen.
„Die Idee, dass die Türkei, ein Land, dass nach der Mitgliedschaft in der EU strebt, das Gesetz nicht respektiert, ist absurd“, sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. „Wir weisen die Vorwürfe kategorisch zurück und ermutigen Lobbygruppen zu einer unparteiischen Darstellung der rechtlichen Schritte, die gegen Menschen ergriffen werden, die fast 250 Zivilisten kaltblütig ermordet haben.“ Erst am Samstag seien 1200 Soldaten aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden.
Der Europa-Direktor von Amnesty International, John Dalhuisen, sagte einer Mitteilung zufolge: „Berichte von Misshandlungen inklusive Schlägen und Vergewaltigung in Polizeigewahrsam sind extrem alarmierend.“ Die Regierung müsse diese „abscheulichen Praktiken“ sofort stoppen.
Amnesty kritisierte auch das am Samstag erlassene Dekret von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der erste Erlass unter dem am Donnerstag verhängten Ausnahmezustand erlaubt unter anderem, dass Behördenvertreter bei Treffen von Verdächtigen und Anwälten anwesend sein und dabei Ton- oder Videoaufnahmen machen dürfen. Dokumente, die zwischen Festgenommenen und Anwälten ausgetauscht werden, können beschlagnahmt werden. Amnesty bemängelte, damit werde das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren unterlaufen.
11.000 Reisepässe für ungültig erklärt
Dem Sender NTV sagte Yildirim, die Regierung plane keine Verlängerung des für drei Monate verhängten Ausnahmezustands. Dies würde nur geschehen, wenn es notwendig sei.
Erdogan ordnete nach Angaben vom Samstag die Schließung von 2341 Einrichtungen im Land an, darunter Schulen sowie gemeinnützige, gewerkschaftliche und medizinische Institutionen. Zugleich verschärfte die Regierung die Ausreisekontrollen, um vor allem Staatsbedienstete an einer Flucht ins Ausland zu hindern. Die Entwicklung löste international Besorgnis aus, deutsche Politiker forderten Konsequenzen.
Rund 11 000 Reisepässe vor allem von Staatsbediensteten wurden nach offiziellen Angaben für ungültig erklärt. An den Flughäfen müssen Staatsbedienstete nun eine Bescheinigung ihrer Behörde vorlegen, in der ausdrücklich steht, dass ihrer Ausreise nichts im Wege steht. Das gelte auch für Ehepartner und Kinder, hieß es.
Seit Donnerstag gilt in der Türkei ein 90-tägiger Ausnahmezustand. 37 500 Polizisten und zivile Angestellte wurden seither entlassen, darunter viele Mitarbeiter des Bildungsministeriums. 21 000 Lehrern wurde die Arbeitserlaubnis entzogen. 600 weitere Schulen sollten geschlossen werden, hieß es vom Bildungsministerium. Nach dem Putschversuch ließ die Führung mehr als 10 000 Menschen festnehmen.
Ziel ist es nach den Worten Erdogans, gegen Anhänger der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorzugehen. Erdogan macht den in den USA lebenden Gülen für den Umsturzversuch aus den Reihen der Streitkräfte verantwortlich. Mehr als 260 Menschen wurden getötet. Die Türkei fordert von den USA Gülens Auslieferung.
Öffentliche Dienst soll "gesäubert" werden
Nach Angaben türkischer Regierungsvertreter haben alle von der Schließung betroffenen Einrichtungen Verbindungen zur Gülen-Bewegung. Die türkische Führung hat angekündigt, den öffentlichen Dienst von Gülen-Anhängern zu „säubern“.
Erstmals seit dem gescheiterten Putsch in der Nacht zum 16. Juli traf Erdogan mit dem Chef des Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, zu einer Unterredung zusammen. Erdogan sagte, es habe Versäumnisse des Geheimdienstes vor dem Umsturzversuch gegeben. Fidan und Armeechef Hulusi Akar sollen aber vorerst auf ihren Posten bleiben, wie Erdogan im französischen Sender France 24 erklärte.
Die führenden Industrie- und Schwellenländer forderten von ihrem G20-Partner Türkei die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln. Die G20-Finanzminister und -Notenbankchefs wollten bei ihrem Treffen im chinesischen Chengdu betonen, dass die Stabilität der Türkei wichtig sei, hieß es aus G20-Kreisen.
Der stellvertretende türkische Ministerpräsident Mehmet Simsek hatte zuvor bei einem Symposium in Chengdu den G20-Partnern zugesichert, die demokratischen Regeln einzuhalten. Auch andere G20-Staaten hätten in Bedrohungslagen den Ausnahmezustand verhängt. Die Türkei gehört als aufstrebende Volkswirtschaft zur Gruppe der G20-Länder.
CSU-Chef Horst Seehofer sprach sich für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aus. „Wenn man sieht, wie die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch den Rechtsstaat abbaut, müssen diese Verhandlungen sofort gestoppt werden“, sagte Seehofer den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir warf Erdogan vor, gewaltsam die Alleinherrschaft anzustreben. „Erst haben wir einen dilettantisch ausgeführten Putsch des Militärs erlebt. Jetzt folgt offensichtlich ein von langer Hand geplanter Staatsputsch“, sagte Özdemir der „Passauer Neuen Presse“ (Samstag).
Kauder rät von Sanktionen gegen Türkei ab
Die angespannte Lage hat nach Einschätzung von Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) keine Auswirkung auf das Flüchtlingsabkommen mit der EU. Das Abkommen sei "durch die innenpolitische Lage in der Türkei nicht infrage gestellt", sagte Kauder der "Welt am Sonntag". "Die, die jetzt das Abkommen mit der Türkei vorschnell kündigen wollen, müssten dann auch erklären, dass die Flüchtlingszahlen und damit auch die Zahl der Toten im Meer wieder steigen werden."
Das im März geschlossene Abkommen sieht vor, dass die Türkei alle auf den griechischen Inseln ankommenden Flüchtlinge zurücknimmt, deren Asylantrag in Griechenland abgelehnt worden ist. Im Gegenzug sagte die EU zu, für jeden zurückgenommenen Syrer auf legalem Weg einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufzunehmen. Zudem sagte die EU eine deutliche Aufstockung der Hilfszahlung zur Versorgung der Millionen von Flüchtlingen zu, die von der Türkei aufgenommen worden sind.
Die EU hatte zuletzt erhebliche Sorge wegen der repressiven Reaktion der Türkei auf den gescheiterten Putschversuch des Militärs geäußert. Kauder lehnte es in dem Interview aber ab, Sanktionen gegen die türkische Regierung zu verhängen. Vielmehr sollte die EU gegenüber Ankara "auf die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen der Türkei und der EU hinweisen", empfahl er. "Da steht für die türkische Regierung einiges auf dem Spiel." (dpa, AFP)