Das Coronavirus macht Nachrichten zur Pflicht: Herrgott, informiert Euch! Gegen eine Pandemie hilft keine Ignoranz
Besonders junge Menschen empfinden es als achtsam, sich nicht zu informieren. Sie bleiben trotzig. In der Krise ist das verantwortungslos. Ein Kommentar.
Wem alles egal ist außer das eigene Ich, der kann sich das Leben leicht machen. Das gilt insbesondere in Krisenzeiten. Während die Vernünftigen sich längt zu Hause isolieren, trinken die anderen ihre Weißweinschorle in der Märzsonne jetzt noch ein bisschen entspannter. Die Cafés und Restaurants haben ja noch geöffnet.
Freunde werden zum Brunch eingeladen. Als müsse man trotzig sein, gegen die in Berlin (noch) unsichtbare Gefahr des Virus. Aber das Virus ist kein Terroranschlag. Die Gesellschaft muss jetzt nicht beweisen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. Die beste Waffe, die es aktuell gibt: umfassende Informiertheit.
Sie ist ein Wunschzustand. Stattdessen erleben wir einen Riss, der sich durch alle gesellschaftlichen Schichten zieht: Zwischen denen, die bewusst Nachrichten konsumieren, und denen, die sich maximal durch ihren Facebook-Feed informieren.
(In unseren Leute-Newslettern aus den Berliner Bezirken gibt's Nachrichten, Infos und Hintergründe zum Coronavirus aus den Berliner Bezirken. Hier kostenlos zu bestellen: leute.tagesspiegel.de)
Dieser Riss hat wenig mit Intelligenz oder Bildung zu tun, viel mit fehlenden Interesse für Nachrichten Es trifft die weltgewandte Geschäftsfrau genauso wie den Blumenhändler. Man möchte Ihnen zu rufen: Herrgott, informiert euch!
Junge Menschen konsumieren weniger Nachrichten
Besonders junge Menschen haben in den vergangenen Jahren weniger Nachrichten konsumiert. Jedes Jahr wird der "Reuters Institute Digital News Survey" veröffentlicht. Für vergangenes Jahr stellt die Studie einen erneuten, aber nur leichten Rückgang am Interesse für Nachrichten fest. Alarmierend ist aber, dass es vor allem unter Jüngeren deutlich zurückgeht.
In der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen um 5 Prozentpunkte und sogar um 11 Prozentpunkte in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen. Gleichzeitig zeigen sich diese Alterskohorten im Gegensatz zu den Älteren auch besonders erschöpft von Nachrichten: 30 Prozent der 18- bis 24-Jährigen, sogar 34 Prozent der 25- bis 34-Jährigen antworteten entsprechend.
Misstrauische Generation widersetzt sich den Verboten
54 Prozent der Menschen vermeiden deshalb laut der Studie im Internet bewusst Nachrichten. Besonders die Jüngeren misstrauen Medien: 27 Prozent sind der Meinung, dass die Medien ihrer Kontroll- und Kritikfunktion nicht nachkommen.
Ist es nur Zufall, dass es nun genau diese Generation ist, die trotz der Verbote die Parks und Cafés bevölkert? Die sich in Telegram-Gruppen organisiert, um ausschweifende Alternativ-Partys zu feiern, weil die Clubs zu sind?
Die Gründe für dieses Desinteresse sind wohl vielfältig. Wie Medien berichten, hat sicher einen Einfluss darauf. Jedem Dritten ist die Berichterstattung laut der Reuters-Studie zu negativ. Andererseits stehen wir einer immer größeren Informationsflut gegenüber, die Welt dreht sich immer schneller - während unsere kognitiven Kapazitäten auf einem ähnlichen Niveau bleiben.
In unseren Handys konkurrieren Nachrichten mit Hundefotos, mit Instagram-Models und Foodie-Fotos. Wofür entscheiden wir uns?
Wir verlieren die Souveränität über unsere Zeit
Beschleunigung regiert die Welt. Das gilt im Übrigen nicht nur für Nachrichtenzyklen, sondern auch für die Ausbreitung des Coronavirus.
"Ganz egal, wie schnell wir werden, das Verhältnis der gemachten Erfahrungen zu denjenigen, die wir verpasst haben, wird nicht größer, sondern konstant kleiner", sagt der Soziologe Hartmut Rosa.
Laut Rosa führe es auch zu Burnout und Depressionen. "Die Erlebnisdichte pro Zeiteinheit wird immer dichter", schreibt der Soziologe in seinem Buch "Beschleunigung".
Wir verlieren also die Souveränität über unsere Zeit, sind atemlos.
Sich dieser Beschleunigung zu entziehen, wieder souverän zu handeln, gilt in bestimmten Kreisen deshalb als "achtsam". Oft bedeutet das auch, sich aus dem nachrichtlichen Alltag zurückzuziehen. Denn die schnellen Nachrichtenzyklen verkörpern die Beschleunigung der Welt wie wenig anderes. Kein Interesse mehr für das Tagesgeschehen zu haben, gilt deshalb als lässig.
Und dieses bewusste Desinteresse mag in Friedenszeiten ja tatsächlich zu mehr Ruhe führen. In einer Krise, in der es auf das Verhalten jedes Einzelnen ankommt, wird Wegschauen und Ausklinken zur tödlichen Gefahr. Es reicht jetzt nicht mehr, sich einmal die Woche pflichtschuldig auf tagesschau.de zu informieren und sonst sein Heil in kuschligen Netflix-Abenden zu suchen.
Das ist besonders dramatisch, weil junge Leute als sogenannte „super spreader“. Sie erkranken zwar meist weniger an Covid-19. Doch Daten aus Südkorea zeigen: Sie könnten die Treiber der Pandemie sein. Ohne es zu wissen.
Mit Panik und Trotz zu reagieren, ist gefährlich
Ja, das Coronavirus macht den Menschen psychisch zu schaffen. Die Bedrohung ist für den Einzelnen schlecht bezifferbar. Das führt zu einem Gefühl der Unkontrollierbarkeit.
Neben den vielen, die rational agieren, geraten einige in Panik. Andere reagieren mit Trotz. Beides ist gefährlich - für den Einzelnen und die Gesellschaft. Panik führt zu Diebstählen von Atemschutzmasken aus Krankenhäuser.
Sie führt zu den asozialen Hamsterkäufen. Die Trotzigen veranstalten derweil "Corona-Partys". Was in etwa so verantwortlich ist, wie mit seinem Auto betrunken und mit Tempo 200 über die Autobahn zu brettern.
Denken wir zurück: Vor einer Woche gab es nur wenig mehr als 1000 Infizierte in Deutschland, heute sind es mehr als 8000. Die tatsächlichen Zahlen liegen laut dem Präsidenten des Robert-Koch-Institutes um ein Vielfaches darüber.
Sie steigen exponentiell. Vor einer Woche haben wir noch darüber gestritten, wie schlau es ist, mit 50.000 anderen Stadionwurst zu essen und Bier am Spielfeldrand zu trinken, heute wird bereits über umfassende Ausgangssperren diskutiert.
Vor wenigen Wochen wurde das Coronavirus noch als "eine Art Grippe" bezeichnet, oder rassistisch als "gelbe Gefahr", die in China wütet, aber nicht hierzulande. Wer in den letzten Tagen nicht die dramatischen Berichte italienischer Ärzte gelesen oder im Fernsehen geschaut hat, versteht womöglich nicht, wie groß die Gefahr tatsächlich ist. Sie ist hierzulande ja noch weitestgehend unsichtbar.
Gesellschaft der Informierten als Sicherheit für die Schwächsten
In der Krise gewinnen seriöse Nachrichten deshalb noch weiter an Wert. Sie minimieren das Unbekannte, soweit es in einer so volatilen Krisensituation eben möglich ist. Das muss der Anspruch an die Medien sein und ihr Selbstanspruch.
Wir brauchen in dieser Krise eine Gesellschaft der Informierten. Sie bedeutet Sicherheit für die Schwächsten - für die Alten und die Kranken. Sich nicht zu informieren, ist verantwortungslos. Wer solidarisch sein will, hat die moralische Pflicht sich selbst und die, die es nicht vermögen, mit den aktuellsten Nachrichten zu versorgen.
Auch unkonventionelle Maßnahmen denkbar
Eine tatsächliche Pflicht zur Information ist aber schlecht durchsetzbar. Deshalb müssen die politisch Verantwortlichen den beschriebenen Riss mitdenken: Wie informieren wir die Bevölkerung? In Krisenzeiten sind dafür auch unkonventionelle Wege denkbar.
Lautsprecherwagen, die die Menschen über Maßnahmen informieren, und Polizisten, die Ankündigungen verbreiten, können den Ernst der Lage signalisieren - in Italien passiert das bereits. Auch die Aktivitäten in den Sozialen Medien müssen weiter beschleunigt und professionalisiert werden. Es braucht jetzt präzise Krisenkommunikation.
Möglichst umfassende Information scheint zur Zeit der beste Impfstoff gegen das Coronavirus. Wer informiert ist, weiß, weiß wie er andere am besten schützt. Wer informiert ist, bleibt zu Hause so oft es möglich ist.
Oder um es - vielleicht zielgruppengerecht - mit den Worten des Youtubers Rezo zu formulieren: "Wer unnötig hamstert oder sich jetzt noch aus Spaß in großen Gruppen aufhält, ist einfach whack und verantwortungslos."
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