Nachruf auf den Altkanzler: Helmut Schmidt - eine unverwechselbare Erscheinung
Helmut Schmidt war lange unterschätzt und am Ende verehrt. Als Redner eine Autorität, in seiner Popularität ein Phänomen, als Politiker aber auch einmal gescheitert.
In den letzten Jahren seines langen Lebens war er fast zu einer Ikone geworden. Mit Staunen sah man, wie eine Gesellschaft, die sich von der Politik und den Politikern zunehmend abwendet, in einem Politiker, in Helmut Schmidt, ein lebendes Denkmal entdeckte. Dabei hatte er den Jahren seinen Tribut entrichten müssen, war auf Rollstuhl und Hörgerät angewiesen, doch die Schwächen des Alters verstärkten eher seine Ausstrahlung.
Mit unvermindert scharfen Urteilen, selbstbewusster Würde und seiner kantigen Persönlichkeit wurde er zur Verkörperung des elder statesman, ja, zur politisch moralischen Instanz. Das führt dazu, dass sein Tod am Dienstag in einem Alter, für das selbst das gängige Attribut "biblisch" zu schwach erscheint, rührt und erschüttert. Er macht das Leben in diesem Land ärmer.
Die Hochachtung, die Schmidt zuwuchs, lag ja nicht nur an seinen weißen Haaren, wie der kühle Hanseat selbstironisch spöttelte, und auch nicht nur daran, dass er sich so gut zum Gegenbild der an herausragenden Gestalten armen aktuellen Politiker-Riege eignete. Sie galt nicht zuletzt dem Phänomen einer Alters-Präsenz, für die es – soweit man sehen kann – kaum einen Vergleich gibt. Adenauer, der Inbegriff des politischen Methusalems, starb im Alter von 91 Jahren, Schmidt war noch in seinem neunten Lebensjahrzehnt von ungebremster Aktivität, reiste 93-jährig nach China, schrieb ein Buch nach dem anderen. Vor allem: Nach dem Maßstab der Lebensstufen ein Greis, hatte er bis zuletzt nichts Greisenhaftes.
Höhenflug und Absturz
Helmut Schmidt: das war auch in seinen hohen neunziger Jahren ein Ereignis – als Redner von beeindruckender Eindringlichkeit, als öffentliche Figur eine Autorität, als Erscheinung unverwechselbar. Dabei war dieser Schmidt ein spätes Vorkommnis. „Unser Schmidt“, wie der Journalist Theo Sommer sein Porträt überschrieb, mit einem Grad von familiärer Akzeptanz, die bis dahin keinem Politiker zuteil geworden war, wurde er erst in den letzten dreißig Jahren seines Lebens, nach der Politik, als Herausgeber und Mitverleger der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.
Die Nachhaltigkeit dieser Zweitkarriere ließ die erste fast zurücktreten. Ebenso die Spannweite seines Lebens, das den Höhenflug, aber auch den Absturz gekannt hat. Als er 1982 als Kanzler abgewählt wurde, fielen seine Umfragewerte tief in den Keller. Doch Schmidt resignierte nicht, sondern machte weiter – nun mit den anderen, publizistischen Mitteln. Zwei Jahrzehnte später, 2005, war er nach Emnid der beliebteste Politiker der jüngeren Geschichte.
Natürlich schlugen sich in dieser mirakulösen Renaissance die drei Jahrzehnte nieder, in denen Schmidt eine unverwechselbare Größe in der deutschen Politik war. Mehr noch: dass er nie einen Zweifel daran ließ, woran man mit ihm war – die Verkörperung dessen, was heute alle wollen: Authentizität. Und dass er sich selbst in seinem Erscheinungsbild überraschend gleich blieb: die markante Physiognomie, nur im Alter etwas weichgezeichnet, das volle Haar gescheitelt im Stil seiner Jugend, also der dreißiger Jahre, das demonstrativ Norddeutsche in Sprache und Auftreten, dazu als äußerliche Attribute die Prinz-Heinrich-Mütze und die notorischen Menthol-Zigaretten. Und unverändert blieb auch die Botschaft, für die dieser politische Charakter stand: Nüchternheit und Entscheidungskraft, Pflicht und Verantwortung, eine späte Nachricht vom Staat.
Politisches Inventar der Bundesrepublik
Sieht man auf seine Leistungen und Verdienste, so gebührt ihm fraglos ein Platz in der ersten Reihe der deutschen Nachkriegspolitiker, auch wenn sein Wirken die Geschichtsmächtigkeit von Adenauer, Brandt und Kohl vielleicht nicht erreichte und man von einer Ära Schmidt nicht wird reden wollen. Misst man seine Bedeutung für die SPD an ihren Regierungsjahren, dann war er sogar ihr erfolgreichster Repräsentant – acht Jahre, länger als jeder andere, war er Kanzler, länger als Brandt und selbst Schröder. Aber dazu kam auch, dass er fast schon seit den legendären Urzeiten der Bundesrepublik zu ihrem politischen Inventar gehörte.
Als junger, heftiger Debattenredner tauchte er bereits in den turbulenten Zeiten auf, in denen um die Bundeswehr und ihre atomare Bewaffnung gestritten wurde; seither gab es „Schmidt-Schnauze“. Als Held der Hamburger Sturmflut 1962 wurde er, damals Innensenator, eine deutsche Berühmtheit.
Deutscher Herbst, Sozialpolitik, Nato-Doppelbeschluss
Er war der Fraktionsvorsitzende, der mit seinem CDU/CSU-Pendant Rainer Barzel die erste große Koalition von 1966 bis 1969 managte. Und seit 1969 war er ein Eckstein der sozialliberalen Koalition – als Verteidigungsminister, als Superminister für Wirtschaft und Finanzen, als allgewaltiger Finanzminister, allemal vor Kraft und Ehrgeiz strotzend.
Es ist wahr, dass seine Kanzlerschaft im Schatten von Willy Brandt und des euphorischen sozial-liberalen Anfangs stand. Aber sie bedeutete keineswegs – wie damals von manchen behauptet wurde – den Abschied von der Reformära zugunsten eines fantasielosen, den Sachzwängen unterworfenen Pragmatismus. Vielmehr machte sie die Fortführung der SPD/FDP-Koalition möglich, mit „Kontinuität und Konzentration“, wie der der Titel seiner ersten Regierungserklärung hieß.
Schmidt war die Schlüsselfigur im Ringen mit dem Terrorismus im „deutschen Herbst“ 1977. Mit ihm an der Spitze bewältigte die Bundesrepublik zwei Wirtschaftskrisen. Man kann dagegen halten, dass seine Regierung mit ihrer Legierung von Machertum und Realitätssinn der Bundesrepublik auch ein hochstrapaziertes Sozialsystem und eine anschwellende Proteststimmung hinterließ. Die Fairness gebietet jedoch, hinzuzufügen, dass die Bundesrepublik dank Schmidts Politik besser durch die schwierigen achtziger Jahre gekommen ist als die meisten anderen Staaten.
Schließlich ist es seinem Einsatz und seinem Ehrgeiz zuzuschreiben, dass die Bundesrepublik in den siebziger Jahren international in eine mitentscheidende Rolle hineinwuchs. Zusammen mit Giscard d’Estaing begründete er die globale Diplomatie, die, allem Spott über die orakelnde Gipfel-Rhetorik zum Trotz, auf der Haben-Seite der internationalen Politik steht.
Er wurde zum Vater des Nato-Doppelbeschlusses, der Antwort des Westens auf die dramatische Zuspitzung der Ost-West-Konfrontation in den achtziger Jahren. Diese Entscheidung riss die Bundesrepublik hinein in eine gewaltige, fast bürgerkriegerische Auseinandersetzung. Heute wissen alle, dass sie richtig war.
Was bleibt? In der Geschichte der Bundesrepublik bildet Schmidts Kanzlerschaft ein wichtiges, zumeist unterschätztes Kapitel: sozusagen das Mittel- und Vermittlungsstück zwischen ihrer historisch gewordenen ersten Hälfte und ihrer zweiten, mit der ihre Politik und Gesellschaft sozusagen in die Neuzeit der Republik eintraten. Dass er mithin, so Theo Sommer, „die Westdeutschen in die Normalität einübte“ – inmitten der Stromschnellen von beginnender Globalisierung und Protestbewegung. Er hielt das Staatsschiff auf Kurs, allerdings um einen hohen Preis: den des eigenen Scheiterns. „Erfolgreich regiert – am Ende ausmanövriert“, überschrieb sein Biograf Hartmut Soell das Ende seiner Kanzlerschaft. Schmidt gewann die Wahlen – und verlor die Partei.
Unperson in der eigenen Partei
Da scheiterten eine Politik und ein Charakter. Denn nicht nur Union und FDP brachten Schmidt zu Fall, sondern auch und nicht zuletzt die eigene Partei, die von alternativen Wehen geschüttelte SPD. Die Abstimmung über die Nachrüstung beim SPD-Parteitag in Köln im November 1982, bei der nur noch ein reichliches Dutzend von Getreuen hinter ihm stand, markierte den dramatischen Tiefpunkt seines politischen Lebens – und den der Geschichte der SPD dazu.
Es illustriert ihren damaligen Zustand, dass Helmut Schmidt in seiner eigenen Partei fast zur Unperson wurde, dessen Politik als eine Art Abweichung vom rechten, in Richtung Rot-Grün driftenden Weg galt. Es dauerte lange Jahre, bis er wieder auf einem sozialdemokratischen Parteitag das Wort ergriff.
Und es brauchte erst seinen 90. Geburtstag für das Eingeständnis ihres damaligen Vorsitzenden Franz Müntefering, dass er und seine Generation „überwiegend und lange“ Schmidts Bedeutung „für die Theorie und Praxis der Sozialdemokratie unterschätzt“ hätten. Allerdings hat Schmidt mit seinem Politikverständnis seine Partei auch bewusst herausgefordert. Der forsche Macher und kühle Pragmatiker fand keinen Zugang zu den alternativen und ökologischen Strömungen, die sich während seiner Regierungszeit ausbreiteten.
Ein stoischer, manchmal selbstgefälliger Realismus
Sein brüskes Verdikt „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ stellte einen Maßstab der Nüchternheit auf, der ins Mark ihrer Motive und Konzepte schnitt, und die in den Reihen der SPD damals ins Kraut schießende Theoriediskussion parierte er mit dem rhetorischen Handkantenschlag: „mein Gott, man braucht Grundsätze“. Seinen „bewusst abgemagerten Politikbegriff“ nannte das der Parteiintellektuelle Peter Glotz. Ein Wort mit Trauerrand.
Im Übrigen war diese herausragende Gestalt auch – das muss gesagt werden – eine schwierige Natur. Seine unbestreitbaren Fähigkeiten konnten sich mit einem schroffen, reizbaren, hochfahrenden Wesen verbinden. Häufig wirkte er angespannt, angetrieben von der Überzeugung der eigenen Überlegenheit, vor allem in Wirtschaftsfragen. Auch hielt er sich etliches zugute auf seine Unverblümtheit, die an Unhöflichkeit grenzte, und nervte mit seinem Bedeutungspathos. Der „eiserne Kanzler“, der „Generaldirektor der Bundesrepublik“ (Hans-Peter Schwarz) trug gern einen stoischen, von Selbstgefälligkeit nicht freien Realismus zur Schau.
Dabei hatte er mit drastischen Gesundheitsproblemen zu kämpfen – mehrere Ohnmachten in seiner Regierungszeit, zwei Herzinfarkte, Anfälle von Hypochondrie. Um Spott brauchte er sich nicht zu sorgen. „Abkanzler“ höhnte die Opposition, „Le Feldwebel“ spottete man im Ausland, und selbst seine Apostrophierung als „Weltökonom“ galt weniger seiner unbestrittenen wirtschaftspolitischen Kompetenz als der Ironisierung seiner Überheblichkeit. Leicht zu bewundern war er nie.
Auch weil er nicht frei war von der Neigung, den Vorphilosophierer der Nation zu geben, und die Öffentlichkeit reichlich mit Kant-Zitaten oder Verweisen auf den englisch-österreichischen Sozialphilosophen Karl Popper eindeckte. Aber kein anderer Politiker kann auch so wie er in Anspruch nehmen, sich darum bemüht zu haben, der Politik ein nachdenkliches, ethisches Unterfutter zu verschaffen.
„Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“ hieß die Formel, die er unermüdlich verkündete, und in den siebziger Jahren bemühte er sich ernsthaft um eine programmatisch-nachdenkliche Grundlage für seine Partei. Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie hieß die – längst vergessene – Zauberformel, die bald von Ökologie und alternativem Denken über den Haufen gerannt wurde. Zumal sich in seinen späteren Jahren herausstellte, wie sehr gerade der zeitlebens als Macher und Pragmatiker verschrieene Schmidt vom moralisch-politischem Engagement angetrieben war.
Ein Fundament von Werten
Zu Schmidt gehörte, ausgeprägter als bei anderen Politikern, seine persönliche Welt. Dieser Mann wäre nicht gewesen, was er war, ohne die Lebenswelt, die ihn modelliert hatte, die er hochhielt. In seinem vielleicht persönlichsten Buch, „Weggefährten“ – Ersatz der Autobiografie, die er nicht schreiben wollte –, lässt er eine imponierende Fülle an Freundschaften und Bekanntschaften, an Interessen und Neigungen Revue passieren.
Was für ein Spektrum, was für ein Grat an Einfühlung! Da finden sich Schauspieler wie die Hamburger Theaterprinzipalin Ida Ehre, Schriftsteller wie Siegfried Lenz, Banker, Musiker, Wissenschaftler, da spielt das eigene musikalische Dilettieren als Pianist eine Rolle, das immerhin zu Schallplattenaufnahmen mit Christoph Eschenbach und Justus Franz führte, und die Leidenschaft für den deutschen Expressionismus.
Und natürlich war Schmidt nicht zu denken ohne die lange, bald siebzig Jahre andauernde Ehe mit seiner 2010 gestorbenen Frau Loki und die Lebensumstände, an denen er durch das ganze Leben hindurch festhielt – das bescheidene Reihenhaus in Hamburg Langenhorn, das schlichte Feriendomizil am Brahmsee.
Die Wichtigkeit dieses Gehäuses des eigenen Lebens für ihn spiegelte sich noch in der Übung, auch die Größen der Politik in das Hamburger Haus einschließlich der Kellerbar zu bitten. Dahinter standen die Prägungen der Herkunft – das Lehrerhaus, aus dem er stammte, die Reformluft der Lichtwarkschule, gehärtet, so darf man annehmen, durch das Generationserlebnis des Krieges. Dazu die Heimatstadt, die ihn fast lyrisch – „Sie schläft, meine Schöne“ – stimmen konnte. Ein Fundament, ein Achtung erheischendes Gefüge von Werten und Bezügen, das diesem langen Leben und dieser komplizierten Persönlichkeit Halt und Festigkeit gab.
„Modell Deutschland“ hieß die Losung, mit der Schmidt 1976 die Bundestagswahl gewann. Ein Modellfall für das, was politische Existenz in Deutschland zu unseren Zeiten sein konnte, war er selbst.