Der Kanzlerfotograf erinnert sich: "Helmut Kohl war auch in der Lage, Fehler einzugestehen"
Konrad R. Müller ist einer der bedeutendsten Fotografen der Nachkriegszeit. Mehrfach hat er Helmut Kohl begleitet. Hier erinnert er sich an zwei besondere Begegnungen.
Das Treffen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow stand unter großer öffentlicher Beobachtung. Zuvor hatte der Bundeskanzler Herrn Gorbatschow mit Joseph Goebbels verglichen. Vor dem Kanzlerbungalow in Bonn warteten also unzählige Kamerateams und Reporter darauf, einen Blick erhaschen zu können. Helmut und Hannelore Kohl hatten Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa zu sich nach Hause eingeladen zu einem gemeinsamen Abendessen. Das war der 14. Juni 1989, die Gorbatschows waren gerade auf einem viertägigen Staatsbesuch. Helmut Kohl wollte, dass ich dabei bin, um Bilder zu machen. Nur musste ich irgendwie an der Presse vorbei. In Bonn war es zum Glück noch so, dass der Bundeskanzler und der Bundespräsident sich einen gemeinsamen Park teilten, in dem sie flanieren konnten. So weit ich weiß, sind sich Richard von Weizäcker und Helmut Kohl aber meist aus dem Weg gegangen. Ich kam also über das Bundespräsidialamt rein.
Es war ein wunderbarer Sommertag, und weil im Juni die Tage besonders lang sind und das Licht toll ist, konnte ich bis beinahe 22 Uhr fotografieren. Die Ehefrauen saßen auf der Veranda und unterhielten sich. Beide sprachen ja gutes Englisch, Hannelore Kohl war ja Fremdsprachensekretärin. Währenddessen machten die Männer noch vor dem Abendessen einen Spaziergang im Park. Dort entstand das Motiv, wie Helmut Kohl sich wie ein Adler vor Michail Gorbatschow aufbaut, der gebannt zu ihm aufschaut, daneben der russische Dolmetscher. Ich habe ihn in den Jahren danach mehrfach gefragt, was er in dem Augenblick gesagt hat. Er sagte immer nur: „Vergiss es, das erzähle ich dir nie!“
Kohl nahm es mit der Erinnerung nicht so genau
Wir liefen zum Ende des Parks, dort befindet sich eine kleine Steinmauer. Dahinter ist ein Fußweg und man blickt auf den Rhein. Hier standen beide und sprachen mit den Passanten, die vorbeiliefen. Und hier sagte der Kanzler zu Michail Gorbatschow, dass der Rhein immer ins Meer fließe, unaufhaltsam, und so sei es auch mit der Deutschen Einheit.
Interessant ist, dass Helmut Kohl das in seinen Erinnerungen historisch verfälscht hat. Dabei war er ja ein großer Historiker. Er hat später geschrieben, sie hätten zu Abend gegessen und wären dann weit nach Mitternacht spazieren gegangen und dann wäre all das passiert. Das stimmt aber nicht. Ich habe es ja fotografiert, und zwar ohne Blitz, das war am helllichten Tag.
In jedem Fall sind sich an diesem Abend beide sehr nahe gekommen, glaube ich. Ich glaube auch, dass es dieser Abend war, an dem Helmut Kohl Michail Gorbatschow davon überzeugt hat, dass die Wiedervereinigung kommen wird, und zwar friedlich.
Die Stimmung bei diesem Treffen wirkte sehr gelockert. Anscheinend wurde allein die persönliche Einladung, allein das persönliche Abendessen zwischen vier Menschen als völlige Entkrampfung empfunden. Da trafen zwei Menschen aufeinander, die den Austausch suchten und das Verständnis für den anderen.
Wovon ich allerdings nichts mitbekommen habe, ist eine Entschuldigung für den Vergleich mit Joseph Goebbels. Das wäre aber auch sicher nicht in meiner Gegenwart passiert. Sicherlich war Helmut Kohl in einer Bringschuld und er war auch in der Lage, Fehler einzugestehen. Dieses Interview wird Helmut Kohl schnell bereut haben. Aber er hat sich nie unterwürfig gezeigt. Eine Eigenschaft, die auch beim zweiten großen Treffen eine Rolle spielte, bei dem ich dabei sein durfte. Auch da ging es wieder um die Zusammenführung beider deutschen Staaten.
Es war der 4. Januar 1990, also kurz nach dem Fall der Mauer.
Kohl hielt Mitterrand gefangen
Kurz zuvor war der französische Präsident François Mitterrand noch einmal in die DDR gefahren und hatte Staatschef Erich Honecker einen großen Kredit angeboten. Sowohl François Mitterrand als auch Margret Thatcher hatten aus erklärbaren Gründen Angst vor einem Wiedererstarken Deutschlands. Mit Thatcher kam Helmut Kohl nicht gut zurecht, bei ihr konnte er überhaupt nichts bewegen. Von François Mitterrand hielt er aber unglaublich viel. Und er wollte ihm seine Angst nehmen. Also schlug er ihm vor, ihn kurz nach Weihnachten zu besuchen. Im Grunde hatte er sich damit selbst eingeladen. Mitterrand empfing den Kanzler auf seinem Landsitz in Latché. Wobei Landsitz ein sehr großes Wort dafür ist, eigentlich war es ein kleines Köhlerhaus, in das sich François Mitterrand mit seiner Frau zurückziehen konnte.
Wir flogen also von Ludwigshafen aus mit einer Challenger, einem kleinen zweimotorigen Flugzeug, nach Biarritz an die Atlantikküste. An Bord waren der Büroleiter, ein Dolmetscher und ich. Von Biarritz aus ging es weiter mit einem Hubschrauber. Nach etwa 20 Minuten landeten wir auf dem Nachbargrundstück, das nicht viel mehr als eine große Wiese war. François Mitterrand kannte ich, weil wir ein paar Jahre zuvor miteinander gearbeitet hatten. Ich stieg zuerst aus dem Helikopter, weil ich ja Bilder machen wollte. Da begrüßte der französische Präsident mich zuerst, noch vor dem Bundeskanzler. Keine Ahnung, wie der das aufgefasst hat, aber er konnte ja einiges wegstecken.
Helmut Kohl sagte dann zur Begrüßung: „François, très chic!“ Das waren die einzigen Worte auf Französisch, die er sagte. Nur trug Mitterrand eine Art Bauernkleidung, war also alles andere als schick angezogen.
Zum Mittagessen ließ Mitterrand extra einen Koch aus dem Elysée-Palast einfliegen. Beim Essen selbst war ich nicht dabei, aber im Anschluss fuhren wir zum Strand, der war nur vier Kilometer entfernt. Ich dachte, das würde tolle Fotomotive geben. Wir fuhren mit zwei Autos. Im ersten saßen der Chauffeur, die französische Chefdolmetscherin auf dem Beifahrersitz, und hinten links und rechts saßen Helmut Kohl und François Mitterrand. Im zweiten Auto saßen Kohls Büroleiter, die Sicherheitsleute, der deutsche Dolmetscher und ich. Als wir am Meer ankamen, hielten wir an und warteten. Und warteten. Das dauerte fast eine Stunde. In der Zeit hat Helmut Kohl François Mitterrand praktisch als persönlichen Gefangenen in diesem Auto gehalten und ihn nicht aussteigen lassen. Später auf dem Rückflug erzählte er mir, dass das der Moment gewesen sei, in dem er Mitterrand überzeugt hat, dass Deutschland Europa nicht beherrschen will, dass niemand Angst vor Deutschland haben muss und die Einheit notwendig ist. Danach sind wir an den Strand gegangen, François Mitterrand hatte seinen Hund dabei. Die beiden gingen spazieren, ich machte Bilder.
Aufgezeichnet von Christian Vooren