Ukraine-Krise: Häuserkampf im Osten, Kiew führt Wehrpflicht wieder ein
Prorussische Separatisten besetzen in der Ost-Ukraine immer mehr öffentliche Gebäude. Die Wahlkämpfer im Land brauchen Personenschutz. Kiew reagiert, in dem es weitere militärische Kräfte mobilisiert.
Während Spitzenpolitiker aus der EU und den USA versuchen, den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Einlenken und zur Freigabe der Geiseln zu überreden, versinkt der Osten der Ukraine zunehmend in Anarchie. Beobachter wie der Politologe Vadim Karasew, Direktor des Kiewer Instituts für globale Strategien, sprechen von einer „gezielten, russischen Taktik“ zur stillen Annexion der Ostukraine. Der selbst ernannte Bürgermeister der seit drei Wochen besetzten Stadt Slowjansk, Wjatscheslaw Ponomarew, habe mit der Entführung der westlichen Militärbeobachter „gezielt den Blick weg von der Besetzung öffentlicher Gebäude hin zu dem Schicksal der gefangenen Europäer gelenkt“.
Rebellenführer Ponomarew forderte am Donnerstag erneut einen Gefangenenaustausch. Er werde die OSZE-Leute freilassen, wenn die Übergangsregierung in Kiew ihrerseits Gefangene freigebe. Bisher ist Kiew dazu nicht bereit, auch aus Angst, die Ausgetauschten könnten sich an Aktionen der Rebellen beteiligen.
In der Region Lugansk wurden in der gleichnamigen Gebietshauptstadt am Dienstag innerhalb weniger Stunden die Gebäude der Regionalverwaltung, des Polizeihauptquartiers, des Innenministeriums, des Geheimdienstes und die TV-Station besetzt. Die Großstadt mit 450 000 Einwohnern soll, wie auch Donezk, auf das Referendum am 11. Mai vorbereitet werden. Übernächsten Sonntag wollen die prorussischen Besatzer über einen Anschluss an Russland abstimmen lassen. Sowohl die Regionalverwaltung in Donezk als auch in Lugansk sind in den Händen der Rebellen und damit auch die kompletten Wahlunterlagen, die in den Verwaltungsgebäuden lagern.
Kiew führt Wehrpflicht wieder ein
In Charkiw, der mit 1,4 Millionen Einwohnern nach Kiew zweitgrößten Stadt der Ukraine, kam es am Rande einer 1.-Mai-Kundgebung prorussischer Gruppen am Donnerstag zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Stürmung des Bürgermeisteramtes und der Regionalverwaltung konnten jedoch verhindert werden. In Charkiw war am Montag der Bürgermeister Gennadi Kernes angeschossen und lebensgefährlich verletzt worden. Seit Dienstag wird der Politiker in Israel behandelt. Juri Luzenko, früherer Innenminister und Unterstützer des Präsidentschaftskandidaten Petro Poroscheko, sagte der Internetzeitung Lewej Bereg, „der Anschlag auf Kernes war eine Warnung aus Moskau“. Vor allem die Politiker der früheren Regierungspartei Partei der Regionen von Expräsident Viktor Janukowitsch hätten sich in Acht zu nehmen. „Eine proukrainische Politik, die Kernes zuletzt betrieben hat, ist unerwünscht“, sagte Luzenko.
Prorussische Separatisten stürmten am Donnerstag im ostukrainischen Donezk das Gebäude der Staatsanwaltschaft. Der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine zufolge warfen sie Brandsätze und Steine. Gewalt sei ausgebrochen, als Demonstranten sich vor dem Gebäude versammelt hätten. Sie warfen der Staatsanwaltschaft vor, für die westlich orientierte Übergangsregierung in Kiew zu arbeiten. Dann seien Demonstranten in das Gebäude eingedrungen. Die Übergangsregierung hatte am Mittwoch alle Militärkräfte in volle Alarmbereitschaft versetzt. Parallel dazu werden überall im Land Freiwillige gesucht, die eine Ausbildung bei der Polizei oder beim Militär haben und die regulären Streitkräfte unterstützen könnten.
Außerdem unterzeichnete Interimspräsident Alexander Turtschinow einen Erlass, der in der Ukraine die Wehrpflicht wieder einführt. Unter dem Titel „Maßnahmen zur Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit des Landes“ sei es das Ziel der Verordnung, der „Gefahr für die territoriale Einheit und der Einmischung in innere Angelegenheiten der Ukraine“ zu begegnen, hieß es. Demnach müssen Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren wieder ihren Wehrdienst leisten. Eingezogen werden sollen sie zwischen Mai und Juni. Die Pflicht war erst vor einem halben Jahr abgeschafft worden. Vor zwei Wochen hatte das Parlament aber Turtschinow gebeten, die Möglichkeit einer Wiedereinführung zu prüfen. Der Erlass berücksichtige die Verschlechterung der Lage in der Süd- und Ostukraine sowie die „nackte Aggression“ prorussischer Milizen.
Poroschenko: "Riesenrespekt vor dem Mut der ukrainischen Soldaten“
Ein russischer Militärattaché wurde wegen Spionageverdachts festgenommen und seine Ausreise angeordnet. In einigen größeren westukrainischen Städten haben die Freiwilligenkräfte offenbar großen Zulauf. In der Stadt Lwiw sind viele Zufahrtstraßen mit Kontrollposten versehen. Wahlkämpfer wie die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko lassen sich von den Freiwilligen begleiten. Ende der Woche besuchte sie Truppen in Rivne, Iwano-Frankiwsk und Lwiw, dabei ließ sie sich auch Waffen und schweres Gerät vorführen. Martialische Bilder zeigen, wie Timoschenko mit einem Fernrohr die Übungen der Soldaten beobachtet. Auch Konkurrent Petro Poroschenko erklärte im ukrainischen Fernsehen, er habe „einen Riesenrespekt vor dem Mut der ukrainischen Soldaten“.
Einige Politiker wollen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Russland offenbar keinen Wahlkampf mehr machen. In dieser Woche haben gleich drei als prorussische Kandidaten geltende Bewerber ihren Wahlkampf frühzeitig beendet oder ein baldiges Ende angekündigt. Der prorussische Parlamentarier Oleg Zarjow hat ebenso aufgegeben wie die Multimillionärin Natalia Korolewska. Die 38-Jährige sagte am Donnerstag, die Ukraine stünde kurz vor der Spaltung, Wahlkämpfe würden die Situation noch verschlimmern. Der Spitzenkandidat der Partei der Regionen, Michail Dobkin, hat öffentlich angekündigt, er werde aus dem Rennen um das Präsidentenamt aussteigen, sollte sich die Lage in der Ostukraine weiter zuspitzen.
Politologe Vadim Karasew sieht in dem Abspringen der Politiker, die vor allem im Osten und im Süden der Ukraine ihre Wähler haben, jedoch auch ein Kalkül Russlands. Der Experte befürchtet zudem, dass der Osten und der Süden nicht mehr von Politikern repräsentiert werden. Das könnte die Wähler davon abhalten, wählen zu gehen. Auch das würde Russland in die Hände spielen. In Moskau hat man in den vergangenen Wochen immer wieder deutlich gemacht, man werde die Wahlergebnisse nicht anerkennen, sollte sich die Lage im Osten nicht normalisieren.
Nina Jeglinski