Neuer Corona-Gipfel noch vor Ostern?: Harter Lockdown könnte kommen
Die Warnungen aus Politik und Wissenschaft werden immer drastischer. Die Inzidenzen steigen weiter deutlich. Eine Verschärfung des Lockdowns droht.
Stark steigende Infektionszahlen und fast flehende Forderungen von Intensivmedizinern an die Politik auf der einen Seite, eine immer größer werdende Ungeduld bei vielen Bürgern und mancherorts geplante Lockerungen auf der anderen: Kurz nach dem heftig umstrittenen letzten Gipfel von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten befindet sich das Land in der dritten Corona-Welle – und einer komplizierten Lage wie wohl bisher nie in der Pandemie.
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Am Samstag schickte die Kanzlerin zunächst ihren Gesundheitsminister vor. Ihr Parteikollege Jens Spahn sagte bei einer Online-Diskussionsveranstaltung der Bundesregierung, bei der Bürgerinnen und Bürger Fragen stellen konnten: „Wenn wir die Zahlen nehmen, auch die Entwicklungen heute, brauchen wir eigentlich noch mal zehn, 14 Tage mindestens richtiges Runterfahren unserer Kontakte, unserer Mobilität.“ Es sei ein Lockdown nötig, „so wie wir es auch im letzten Jahr an Ostern erlebt haben“, sagte der Minister. Familie im großen Kreis „geht halt dieses Jahr noch nicht“.
Kurz danach ließ Merkel dann ihren Kanzleramtschef verlauten: „Wir sind in der gefährlichsten Phase der Pandemie“, sagte Helge Braun der „Bild am Sonntag“ (BamS). Die kommenden Wochen würden entscheiden, ob Deutschland die Pandemie absehbar in den Griff bekäme. „Wenn jetzt parallel zum Impfen die Infektionszahlen wieder rasant steigen, wächst die Gefahr, dass die nächste Virusmutation immun wird gegen den Impfstoff.“
Im Falle einer solchen Mutation „stünden wir wieder mit leeren Händen da“, warnte der CDU-Politiker. „Dann bräuchten wir neue Impfstoffe, dann müssten wir mit dem Impfen wieder ganz von vorne beginnen.“ Das müsse unter allen Umständen verhindert werden. „Wir dürfen die Chance auf einen weitgehend normalen Sommer nicht dadurch gefährden, dass wir jetzt ein paar Wochen zu früh lockern“, sagte Braun.
Und es gibt Unterstützung für den Kurs. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann stellte für Anfang der Woche weitere Gespräche zwischen Bund und Ländern über einen harten Lockdown in Aussicht. „Erstmal überlegen wir alle solche Sachen“, sagte Kretschmann am Samstagabend in Stuttgart, wie die dpa berichtet.
„Wir müssen das auch mit anderen Ländern vorbesprechen, mit dem Bundeskanzleramt. Wir sehen halt, die Zahlen rasen förmlich hoch.“ Bei den Gesprächen am Montag und Dienstag müsse man „zu Klarheit kommen“. Ob die nächste Konferenz der Ministerpräsidenten mit Merkel, die eigentlich erst für den 12. April geplant ist, vorgezogen werden muss, sagte der Grüne nicht.
Zu Spahns Vorschlag sagte er: „Aus pandemischer Sicht wäre das am besten.“ Allerdings müsse man genau abwägen, ob es sinnvoll und machbar sei, alles zuzumachen. Zuletzt hatte Kretschmann erklärt, die britische Mutante breite „sich gerade so schnell aus, dass sich die Infektionszahlen bei uns alle zehn Tage verdoppeln“. Darauf müsse die Politik reagieren, sonst liefen die Intensivstationen schon im April über.
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach rief Bund und Länder auf, umgehend einen neuen Corona-Gipfel einzuberufen und einen harten Lockdown zu beschließen. „Wir müssen rasch nochmal neu verhandeln“, sagte Lauterbach in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“. „Ohne einen scharfen Lockdown wird es nicht gehen“, betonte Lauterbach und verteidigte seine Forderung nach bundesweiten Ausgangssperren. „Ausgangsbeschränkungen ab 20 Uhr für zwei Wochen würden wirken – wir haben es in Frankreich, Großbritannien und Portugal gesehen.“ Je früher man entscheide, desto mehr Menschenleben würden gerettet.
[„Wir müssen deutlich unter 100.000 Toten bleiben“. Lesen Sie hier das gesamte Interview mit Karl Lauterbach. T+]
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) dagegen äußerte sich kritisch zu einem möglichen neuen Gipfel. „Es braucht nicht ständig neue Gespräche, sondern die konsequente Umsetzung der Notbremse“, sagte Söder der „Augsburger Allgemeinen“. „Überall in Deutschland muss bei einer Inzidenz über 100 automatisch die Notbremse greifen.“
Die „Notbremse“ war beim letzten Gipfel beschlossen worden: Danach sollen die Länder Lockerungen wieder zurücknehmen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz an drei Tagen über dem Wert von 100 liegt. Die Landesregierungen gehen allerdings unterschiedlich mit der Regelung um.
Auch Söder forderte Ausgangsbeschränkungen. „Die Corona-Lage spitzt sich zu, einige Länder haben den Ernst der Lage leider noch nicht verstanden“, sagte der CSU-Chef.
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) plädiert auch dafür, einheitliche Regelungen für Einzelhandel, Sport, Gastronomie, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen zu finden, die dann überall in Deutschland konsequent umgesetzt werden müssten. „Je früher dies erfolge, desto besser ist es für alle“, so Tschentscher.
Er kritisiert andere Landesregierungen, dass sie die verabredete Notbremse nicht konsequent umsetzten. „Die nach dem MPK-Stufenkonzept vorgesehenen Beschränkungen werden nicht konsequent genug und zu kleinräumig umgesetzt“, sagt Tschentscher. „Dieser Flickenteppich führt zu mangelnder Akzeptanz, verstärkter Mobilität und unzureichender Wirkung der Maßnahmen.“
Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), sagte der Nachrichtenagentur dpa, in wenig besiedelten Gegenden würden etwa striktere Ausgangsbeschränkungen keinen Sinn ergeben. „Bei mir bringt eine Ausgangssperre eben nichts – was soll ich denn in der Altmark für eine Ausgangssperre verhängen?“
Die letzte Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) mit der zunächst vereinbarten und dann wieder gekippten sogenannten Osterruhe habe „kein gutes Ergebnis zutage gefördert“. Die kommende MPK müsse daher nicht nur in ihren Beschlüssen Freiraum für regional unterschiedliche Lösungen lassen, sondern auch besser vorbereitet werden.
Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, kritisierte das Corona-Management der Bundesregierung scharf. In Richtung Spahn sagte er der „Rheinischen Post“: „Vom Gesundheitsminister erwarte ich keine Spekulationen über einen neuen Lockdown, sondern konkrete Vorschläge.“
Schneider kritisierte zudem die zurückliegenden Beschlüsse der Bund-Länder-Beratungen. „Die letzte MPK war vom Kanzleramt schlecht vorbereitet. Weil außerdem bei den Maßnahmen zu viele Kompromisse gemacht werden, macht sich der Wegfall der Osterruhe nun besonders bemerkbar.“
Es fehle deshalb jetzt eine Testpflicht für die Wirtschaft und eine Beschränkung für Präsenzgottesdienste zu Ostern. „In beiden Fällen ist Frau Merkel vor der Lobby umgefallen“, so Schneider. Er forderte die strikte Einhaltung der vereinbarten „Notbremse“ ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100.
Auch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken verlangt eine konsequente Anwendung der Notbremse. „Alle vorsichtigen Öffnungsschritte müssen mit sofortiger Wirkung zurückgenommen werden, wenn die Inzidenz den Wert von 100 stabil übersteigt“, sagt Esken dem „Handelsblatt“ zufolge. Um angemessen auf den neuen Anstieg der Fallzahlen zu reagieren, brauche es keinen neuen Corona-Gipfel.
Eine Frage bei neuen Beratungen dürfte sein, welche Auflagen es für die Wirtschaft geben soll. Nachdem am Samstag bereits die neue Ko-Vorsitzende der Linkspartei, Janine Wissler, angemahnt hatte, auch darüber zu reden, „dass nicht dringend notwendige Produktion ein paar Tage stillgelegt werden muss, um die Infektionsketten zu brechen“, zeigte sich am Sonntag auch die Arbeitgeberseite offen für einen harten Lockdown.
Der Präsident des Verbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, sagte der „BamS“: „Es wäre mir lieber, wenn wir noch mal zehn Tage bundesweit in einen harten Lockdown gehen und danach überall öffnen können, anstatt über Monate keine klaren Strukturen zu haben.“ Die Bund-Länder-Runde habe offenbar „das Gefühl dafür verloren, wie die Wirtschaft tickt“.
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Dass es tatsächlich zu einem bundesweiten harten Lockdown kommt, scheint allerdings fraglich, zumal einige Bundesländer ihren Bürgern nach der letzten MPK im Rahmen von Modellprojekten wieder deutlich mehr Normalität versprochen hatten. So will die saarländische Regierung ab dem 6. April landesweit die Restriktionen für Gastronomie, Sport und Kultur sowie private Treffen lockern.
Mit einem negativen Test soll auch der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerthäusern und Fitnessstudios wieder möglich sein. Wenn sich das Vorgehen als erfolgreich erweist, sollen ab dem 18. April weitere Öffnungsschritte folgen. Auch in von anderen Bundesländern wie Bayern geplanten Modellkommunen sollen vergleichbare regionale Testläufe für eine sichere Öffnung von Einzelhandel, Gastronomie und Veranstaltungsstätten stattfinden.
Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) verteidigte am Wochenende die Öffnungspläne: „Wir sind ein kleines Land, unsere Testinfrastruktur ist gut aufgestellt, und aktuell das Infektionsgeschehen moderat – also gute Voraussetzungen um dies saarlandweit zu tun.“ Nach einem Jahr Pandemie „muss uns jetzt mehr einfallen als nur zu schließen und zu beschränken“.
In der Tat ist das Infektionsgeschehen im Saarland im Vergleich zu etwa Thüringen oder Sachsen gering. Dort liegen die Sieben-Tage-Inzidenzen Daten des Tagesspiegel zufolge am Sonntag bei 235 beziehungsweise 204. Während der bundesweite Schnitt demnach rund 134 beträgt, wird für das Saarland eine Inzidenz von etwa 80 gemeldet. Allerdings: Als Hans am Donnerstag seinen Bürgern die frohe Botschaft verkündete, lag der Wert noch bei 70.