Vor der Sicherheitskonferenz: Harte Vorwürfe gegen deutsche Sicherheitspolitik
Der jährliche Sicherheitsbericht warnt: Der Bundesregierung fehlt der Wille zu internationalen Einsätzen. In vielen Konflikten droht eine Verschärfung.
Die internationale Ordnung zerfällt, warnt Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, und es sei unklar, wer sie noch schützen könne und wolle. Jetzt müsse Europa beweisen, dass die Europäische Union „wohlauf ist“ und trotz Krisen und Brexit „bereit ist, für ihre Selbstbehauptung und ihre Interessen zu kämpfen“.
Von Freitag an treffen sich 35 Staats- und Regierungschefs sowie 80 Außen- und Verteidigungsminister aus aller Welt zur 55. Münchner Sicherheitskonferenz, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Vizepräsident Mike Pence. Der jährliche Sicherheitsbericht der Konferenz schildert eine Welt, die wie ein „großes Puzzle“ aussehe, aber niemand wisse, wer „die Teile zusammensetzt“. Deutschland „könnte wesentlich mehr zur strategischen Stärke und Handlungskraft Europas beitragen, indem es seine konventionellen Fähigkeiten weiter verbessert“, sagt Ischinger. Der Bericht moniert, es fehle der Wille, die Bundeswehr unter denselben Voraussetzungen in internationale Einsätze zu schicken, wie Frankreich das tue. Paris wolle Europa militärisch stärken. Für Berlin sei militärische Kooperation vor allem ein Mittel für vertiefte Integration.
Die internationale Lage lässt eine Verschärfung vieler Konflikte erwarten. Die USA konzentrieren sich unter Donald Trump darauf, den Aufstieg Chinas zur neuen Großmacht einzudämmen: im Handel, aber auch geostrategisch. Russland richte sich in selbst gewählter Isolation ein und nutze jede Gelegenheit, die die USA ihm lassen, um sein Machtgebiet auszuweiten, von der Ukraine bis nach Syrien. Nach der Aussetzung des INF-Vertrags, der landgestützte atomare Mittelstreckenraketen verboten hat, droht eine neue Phase des atomaren Wettrüstens.
Nachbarregionen stabilisieren
Die großen Staaten der EU, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, müssten in der Lage sein, das eigene Gebiet und die Nachbarregionen zu stabilisieren, notfalls auch militärisch. Zwei Jahre nach Trumps Amtsantritt seien sie dazu weiter nicht in der Lage. „Wir hoffen, dass Europa sich in diesem Jahr in die Lage versetzt, diese wichtige Rolle zu übernehmen“, sagt Ischinger.
In der EU spricht man bei diesem Ziel entweder von „strategischer Autonomie“ oder von der „Weltpolitikfähigkeit“. Der britische Historiker und Bestsellerautor Timothy Garton Ash nannte die Umfragen zur deutschen und französischen Sicht auf die Weltlage „erstaunlich und beunruhigend“. Demnach ist das Vertrauen in die traditionellen Supermächte dramatisch gesunken, ganz voran in die USA. Auf die Frage, welchem Staats- und Regierungschef sie zutrauten, die richtigen Entscheidungen zu treffen, nennen Deutsche und Franzosen dreimal öfter den Chinesen Xi Jinping als Trump. Auch Wladimir Putin trauen sie mehr zu als Trump, die Deutschen sehen den Russen noch positiver als den Chinesen, die Franzosen sehen ihn zwischen Trump und Xi. Trump kommt in der Umfrage des Pew-Forschungsinstituts auf zehn Prozent Zutrauen in Deutschland und neun Prozent in Frankreich; Putin auf 35 Prozent in Deutschland und 20 Prozent in Frankreich; Xi auf 30 Prozent in Deutschland und 26 Prozent in Frankreich. Weit mehr trauen Deutsche und Franzosen Kanzlerin Merkel und Präsident Macron – wobei auffällt, dass die Deutschen mehr Vertrauen in Macron (77 Prozent) als in Merkel (68 Prozent) haben. Und die Franzosen umgekehrt mehr Vertrauen in den Kanzlerin (78 Prozent) als in ihren Präsidenten (64 Prozent).
Als großes Risiko für die „Weltpolitikfähigkeit“ der EU gilt der Brexit. Großbritannien ist das militärisch stärkste Land Europas. Es ist aber unklar, wie die Briten nach dem Brexit in die europäischen Verteidigungsstrategien eingebunden werden. Garton Ash hofft weiter auf ein zweites Referendum – und dass die Briten sich dann für die EU entscheiden. Der Brexit bedeute „Weltpolitikfähigkeitsverlust“. Den Brexit zu verhindern, sei die beste „Weltpolitikfähigkeitsverlustvermeidungsstrategie“, scherzte der Brite mit einem deutschen Wortungetüm.