SPD diskutiert über Bundestagswahl: Harsche Kritik an „ständigen Strategiewechseln“ in der Ära Gabriel
Die SPD arbeitet das Debakel bei der Bundestagswahl 2017 auf. Unter anderem sollen Kanzlerkandidaten künftig früher nominiert werden.
Als eine Konsequenz aus den Debakeln bei den Bundestagswahlen seit 2009 will die SPD ihre Kanzlerkandidaten frühzeitiger nominieren, um sich besser für den Wahlkampf aufzustellen. "Wir wollen die Spitzenkandidatur früher und geordneter erklären, als das bisher der Fall gewesen ist", sagte Parteichefin Andrea Nahles am Montag in Berlin. Die SPD habe "mehr als einmal denselben Fehler gemacht".
Dies sei eine der Schlussfolgerungen aus einer Analyse der Bundestagswahl 2017, mit der die SPD eine externe kleine Beratergruppe beauftragt hatte, zu der auch ein Werbefachmann und ein Journalist gehörten. Die lange offen gelassene Kandidatenfrage sei ein Kardinalfehler gewesen, heißt es darin. Die SPD sei nicht kampagnenfähig, und es sei nicht erkennbar gewesen, wofür die Partei stehe.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil präsentierte die Analyse am Montag der Öffentlichkeit. Er nannte den Bericht "ehrlich und schonungslos". Mit Blick auf die Wahljahre 2013 und 2017 referierte Klingbeil aus der Analyse, habe die SPD die Kür der Kanzlerkandidaten zu spät und schlecht vorbereitet durchgeführt. Er geißelte auch "ständige Strategiewechsel" in der SPD und den Umstand, dass es in den vergangenen Jahren "viele strategische Zentren" in der Partei gegeben habe.
Der Absturz der SPD bei der Wahl war am Montag auch Thema auf einer Sitzung des Parteivorstands in Berlin. Auf Basis von Dutzenden Interviews und Datenauswertungen hat ein Team um den früheren Spiegel-Journalisten Horand Knaup und den SPD-Europawahlkampfleiter Michael Rüther die Gründe für die 20,5-Prozent-Schlappe bei der Wahl analysiert.
„Wir werden uns die Zeit in der Partei nehmen, die Analyse auszuwerten und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen“, hatte SPD-Bundesvorstandsmitglied Niels Annen im Vorfeld der Sitzung gesagt. „Mit Projekten wie der Brückenteilzeit und der „Eine für alle Klage“ wird unsere Handschrift im Regierungshandeln in den nächsten Wochen sehr deutlich werden“, so Annen.
Nahles beklagt fehlendes Teamwork
Nach Angaben von Parteichefin Andrea Nahles waren auch ein Mangel an klaren Führungsstrukturen und zu wenig Teamarbeit in der Berliner Parteizentrale verantwortlich für die Wahlschlappe bei der Bundestagswahl. Die Untersuchung der externen Arbeitsgruppe habe als ein konkretes Problem die Organisation der Parteizentrale benannt, sagte Nahles dem "Spiegel". "Im Willy-Brandt-Haus gab es keine klaren Führungsstrukturen, zu wenig Teamwork. Die rechte Hand wusste oft nicht, was die linke will."
Die Antwort auf die Frage nach den Fehlern der SPD im Wahlkampf habe aber viele Facetten, sagte Nahles. "Es war nicht eine einzelne Person an der Spitze verantwortlich für die Misere. Schuldzuweisungen wären bequem. Dann hast du die Sache abgehakt und musst nix mehr ändern. Das lässt dieser Bericht nicht zu, da wird nichts beschönigt."
Im Wahlkampf der SPD hätten auch die klaren Botschaften gefehlt, sagt Nahles. "Die Genossen an den Infoständen wussten nicht: Was sind die fünf Ziele, für die wir kämpfen?", sagte Nahles. Die SPD habe zudem ihre internen Widersprüche nicht aufgelöst. Die SPD-Chefin kündigte an, solche Widersprüche zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik nun aufzulösen: "Daran arbeite ich systematisch."
Gabriel sieht Fehler in der Flüchtlingspolitik der SPD
Auch der langjährige SPD-Chef Sigmar Gabriel sieht bei der Flüchtlingspolitik Fehler in der Partei. Sie sei in der Flüchtlingspolitik zu naiv gewesen. Zugleich begrüßte er die Klarstellung der neuen Parteivorsitzenden Andrea Nahles, die für ihren Satz „Wir können nicht alle aufnehmen“ in Teilen der SPD heftig kritisiert wird.
„Ich kann nur allen raten, sich die Lebenswirklichkeit im Land sehr aufmerksam anzuschauen“, sagte Gabriel den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die Debatte sei absolut notwendig. „Und ich freue mich, dass die Parteivorsitzende der SPD mittlerweile einen wesentlich unideologischeren Zugang zu dem Thema hat. Das war nicht immer so.“ Nahles habe nun eine Binsenwahrheit ausgesprochen. „Und immer noch gibt es Streit über diesen Satz.“
Er könne für sich in Anspruch nehmen, sagte Gabriel, nach 2015 als damaliger SPD-Chef und Vizekanzler die Schattenseiten der hohen Zahl geflüchteter Menschen benannt zu haben. „Darauf habe ich sehr früh hingewiesen und zu Realismus aufgefordert. Dafür habe ich viel Kritik gerade auch in meiner eigenen Partei einstecken müssen, weil die Stimmung damals eine relativ unpolitische und naive war. Dort liegen unsere eigentlichen Fehler.“
Gabriel hatte seinerzeit einen Solidarpakt vorgeschlagen, damit der Staat sich genauso um die Sorgen der Einheimischen kümmert wie um die der Flüchtlinge. „Die SPD hat sich gescheut, das zu tun, weil sie Angst hatte vor dem Vorwurf, damit bedienst Du die Vorurteile. Aber wenn eine Partei sich nicht damit befasst, dann gibt es ein Repräsentationsdefizit, das Populisten nutzen“, sagte er.
Die in ihrer Existenz bedrohte SPD muss sich nach Ansicht Gabriels als Partei der Digitalisierung neu erfinden. „Die Sozialdemokratie ist mit der ersten industriellen Revolution groß geworden. Welche Haltung hat die Partei zur vierten industriellen Revolution?“ Die Reformansätze dürften sich nicht „in liberalen und in Teilen eliten-bezogenen Diskursen“ erschöpfen. „Sonst ergeht es uns so wie den Demokraten in den USA.“ Die Digitalisierung biete zum ersten Mal auch die Chance, Freiheitsspielräume nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Beschäftigte zu nutzen. „Das auszubauen und nicht defensiv zu sagen, wir brauchen ein solidarisches Grundeinkommen, einige arbeiten 70 Stunden, andere gar nicht und bekommen dafür 1.500 Euro, das ist fast schon ein euphorisierendes Thema.“ (AFP, KNA, dpa, Reuters)