Eine Zwischenstation für die AfD: Hans-Olaf Henkels erster Tag im Europaparlament
Er sitzt jetzt im Herzen eines Systems, das seine Partei am liebsten abschaffen möchte. Hans-Olaf Henkel ist neuer Abgeordneter im EU-Parlament. Gemütlich machen wird er es sich nicht. Europa ist für die AfD nur eine Etappe – auf dem Weg zurück nach Deutschland.
Nun ist er dort, wo er niemals hinwollte. Irgendwo in den betongewordenen Verästelungen der Europapolitik. 60 Meter hoch. 17 Etagen. 1133 Büros. Das Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg wirkt auf Neuankömmlinge wie Hans-Olaf Henkel verwirrend. Es ist der erste Tag der neuen Legislaturperiode. Der Tag der konstituierenden Sitzung. Für Hans-Olaf Henkel ist es der erste Tag als Politiker überhaupt.
Etwas verloren steht er auf der kleinen Brücke, die die Plenarsaalebene mit den Fraktionsräumen verbindet und sieht sich um. Seit die Alternative für Deutschland, die AfD, mit sieben Prozent ins EU-Parlament eingezogen ist, ist auch ihr Spitzenkandidat Henkel gewählter Volksvertreter. Wie seine Partei muss er nun erst einmal seinen Platz im Herzen Europas finden. Genauer: Raum T08047, sein Büro.
„Es ist ein potemkinsches Dorf hier, grotesk, so wie ich es erwartet hatte“, sagt Henkel. So recht überrascht das harsche Urteil nicht. Schließlich ist das EU-Parlament die Verkörperung dessen, wogegen sich die AfD in ihrem Programm stellt. Den Euro, Bürokratie, europäische Integration – mehr, nicht weniger Europa. „Da müssen wir jetzt irgendwie durch“, sagt Henkel, zeigt auf eine der zahllosen Abzweigungen und geht voran.
Der 74-Jährige hat sich einiges von seiner Aura als ehemaliger Wirtschaftsboss erhalten. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, randlose Brille. Äußerlich fällt Henkel im EU-Betrieb kaum auf. Und doch ist er eine Art Geisterfahrer der Politik, der nicht vom Parlament in die Wirtschaft wechselt, sondern umgekehrt. So jedenfalls sieht Henkel das. Er war Manager bei IBM und als Deutschlandchef zuständig für 30 000 Mitarbeiter. Später Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, dem BDI. Ein Mann, der sein Leben dem Wettbewerb verschrieben hat. Ist er hier richtig?
Das Büro: unberührt
Das Büro ist nicht abgeschlossen. Henkel tritt ein, läuft einmal im Kreis. Das Zimmer ist nur wenige Quadratmeter groß. „Ich fühle mich wie damals, als ich angefangen habe in der Wirtschaft zu arbeiten. Ganz unten“, sagt Henkel und schaut aus dem Fenster. Sein Blick fällt auf den Dôme, die hölzerne Kuppel über dem Plenarsaal, in dem das Parlament an diesem Tag zum ersten Mal tagt. Henkel findet, der Dôme sehe aus wie ein riesiges Cidré-Fass.
Die Regale sind leer, Computer und Kopierer ungenutzt. Keine Unterlagen, keine Stifte auf dem Schreibtisch. Das Büro sieht noch genauso unberührt aus, wie er es am Vortag übergeben bekommen hat. Das Einzige, das darauf hinweist, dass dies hier Henkels Büro ist, und nicht das eines anderen Abgeordneten, ist das Namensschild an der Tür. Für Persönliches ist kein Platz. Persönliches trägt Henkel immer am Mann. Auf dem iPhone, das er selten aus der Hand legt in diesen Tagen, hat er Familienbilder gespeichert. Er ist in zweiter Ehe verheiratet, hat zwei Töchter und zwei Söhne.
Das Büro aber soll nicht zu familiär werden, Europa nicht seine Heimat. „Ich werde versuchen diese Legislatur rumzukriegen, wenn ich es gesundheitlich schaffe, dann bin ich weg“, sagt Henkel.
Deutschland soll raus aus dem Euro
Seine Ziele, die Ziele der AfD, wird er bis dahin kaum umsetzen können. Deutschland soll raus aus dem Euro. Weniger prosperierende Länder wie Italien, Portugal oder Griechenland sollen ihn vorerst behalten können, bevor die Staaten endgültig zu nationalen Währungen zurückkehren. Im Verhältnis zur deutschen Wirtschaft ist der Euro zu schwach, für die portugiesische ist er zu stark, meint Henkel. „Da muss doch jemandem auffallen, dass das nicht funktionieren kann.“ Die Bürokratie der EU, die 50 000 Menschen beschäftigt, hält er für Wahnsinn. „Die Hälfte reicht auch“, sagt Henkel. Und zwölf statt 28 Kommissare sollten die Union auch am Laufen halten können, findet er. Weniger Europa. Henkel würde sagen: ein besseres Europa.
Die Klingel, die den Beginn der Parlamentssitzung ankündigt, läutet. Für die AfD wird es ernst, das erste Mal auf der parlamentarischen Bühne. Henkel muss los. Auch beim Herausgehen schließt er sein Büro nicht ab. Er lässt hier nichts zurück, das er vermissen würde. Gleich nebenan haben Henkels Mitstreiter ihre Büros. Die „wackeren sieben“, nennt Henkel sich und die anderen Abgeordneten, die für die AfD eingezogen sind: Marcus Pretzell, Bernd Kölmel, Beatrix von Storch, Parteichef Bernd Lucke, Ulrike Trebesius und der VWL-Professor Joachim Starbatty, der schon gegen den Euro war, bevor es ihn gab. Allesamt Neu-Politiker.
Allein trottet Henkel in Richtung Sitzungssaal. Immer wieder wandert dabei sein Blick nach oben entlang der Kletterpflanzen, die sich in einer Schlucht zwischen zwei Gebäudeteilen über alle Stockwerke hindurch hinaufranken. „Was machen sie denn, wenn die oben ankommen?“ Das Gigantische an der Europäischen Union: Es fasziniert ihn. Und es stößt ihn ab.
Kaum jemand beachtet ihn
Hans-Olaf Henkel wartet noch einige Minuten vor dem Plenarsaal, bevor die erste Sitzung beginnt. Hier, im EU-Parlament, beachtet ihn kaum jemand. „Stünden wir im Bundestag, wäre hier die Hölle los“, sagt er. Aber es ist nicht die Hölle los. Es sind nur weitere sieben Abgeordnete in einen Verwaltungsapparat gekommen, der sie vermutlich zerkauen und ausspucken wird, als hätte es sie nie gegeben. Doch für Veränderung auf europäischer Ebene sind sie auch nicht hier. Europa, so viel ist schon am ersten Tag der Legislatur klar, ist für die AfD nur ein Zwischenstopp auf ihrem Weg zurück nach Deutschland. In Straßburg, so wünscht es sich Henkel, lassen sich aber Mitstreiter aus dem Ausland finden, für eine Idee, für die in Deutschland kaum jemand zu gewinnen ist.
Für jene, die die EU so lassen wollen, wie sie ist, Erz-Politiker nennt er sie, hat Henkel wenig mehr als Verachtung übrig. Als Martin Schulz, der sich später am Tag mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang zum Parlamentspräsidenten wiederwählen lassen wird, umschwärmt von Kamerateams den Plenarsaal betritt, steht Henkel unbeteiligt daneben. Sein Blick ist angewidert, er sagt: „Meine Fresse, da geht mir das Messer in der Tasche auf.“
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Es ist dieser Moment der Wut, der ihn daran erinnert, warum er mit 74 Jahren in die Politik gegangen ist. Eine Erinnerung an das Leben, das er stattdessen führen könnte, hat er in seinem Auto gelassen. Seinen weißen Segelhut. Am Bodensee liegt sein Boot. Eine Segeljacht der Swan-Klasse. „Als ich bei IBM aufgehört habe“, es war 1997, „da hatte ich genug Geld, um den Rest meines Lebens nichts anderes mehr zu machen, als dort zu segeln“, sagt Henkel. Und doch ist er jetzt hier.
Zum Krawallmachen ist er nicht angetreten. "Das sollen die Jungen machen"
Der Manager Henkel kann das Steuer nicht aus der Hand geben. Nicht, wenn der Kurs aus seiner Sicht so falsch ist.
Der endgültige Bruch mit den etablierten Parteien sei erfolgt, als das Rettungspaket für Griechenland beschlossen wurde. Deutsche Steuergelder für griechische Banken. Das fand er unmoralisch. Zumal er – der Vater ’45 im Krieg gefallen, die Mutter beschäftigt damit, die Familie durchzubringen – sich alles selbst erarbeitet hat. Im direkten Wettbewerb konnte er immer auftrumpfen. Wettbewerb hat ihn groß gemacht. Die EU aber ändert die Spielregeln, hilft den Schwachen, opfert den Wettbewerb der Rettung des Euro.
Beim 51-jährigen Bernd Lucke hatte er erstmals das Gefühl, dass jemand das Problem angehen will. Doch er fürchtete, dass Lucke es nicht allein schafft. Im Januar trat Henkel schließlich in die AfD ein und kandidierte auf Platz 2 der Europaliste. Jetzt betritt er den Plenarsaal.
Dort sitzt Hans-Olaf Henkel nun in einer Reihe mit Politikern wie David McAllister. In Reihe zehn. Der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident, den die CDU als deutschen Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt hat, symbolisiert mit seinem Platz in Henkels Nachbarschaft ganz gut, wie nahe die AfD den Konservativen in Deutschland mittlerweile kommt. Lange hatte die CDU die Alternative für Deutschland einfach ignoriert. Jetzt sitzt die AfD in einer Fraktion mit den Tories, der Partei des britischen Premiers David Cameron. Dass die AfD in die ECR, die Gruppe der Europäischen Konservativen und Reformisten aufgenommen wurde und nicht etwa die Nähe zu Nigel Farages europafeindlicher Ukip oder Marine Le Pens nationalistischem Front National suchte, war ein Coup.
Nur der Gang trennt ihn von den Rechten
Henkel ist diese Abgrenzung wichtig. An seinem Platz hat er eine Zeitung vor sich ausgebreitet. Falls es langweilig wird, wie er sagt. Nur der Gang trennt ihn von den Rechten um Farage und Le Pen. Es ärgert ihn, so weit in der rechten Ecke zu sitzen. Er, der sich selbst als Liberaler versteht, der nur sage, was sich sonst niemand traue. „Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute aus meinem Umfeld öffentlich sagen, was sie im Gespräch mit mir sagen.“ Dass die AfD von Politik und Medien den Ruf als nationalistische Splitterpartei verpasst bekommen habe, sei überhaupt erst der Grund dafür, dass sich nun Homophobe, Rassisten und andere Verirrte in der Partei tummelten. „Diese Typen müssen wir jetzt loswerden“, sagt Henkel.
Als zu Beginn der Sitzung die Europahymne erklingt, steht Henkel auf, während sich die Abgeordneten von Ukip und Front National demonstrativ abwenden. Mit diesen „Clowns“, so sagt er es, will er nichts zu tun haben. Und man möchte Henkel mit seinem hanseatischen Charme, seiner wirtschaftlichen Expertise und der ruhigen Rhetorik gerne glauben, dass da mit der AfD wirklich nur eine Partei der Wirtschaftsprofessoren von allen missverstanden wurde.
"Europa der Vaterländer"
Aber da ist eben auch der andere Henkel. Der, der den Parteisprech vom bösen „zentralistischen Superstaat Europa“ schon übernommen hat und sich stattdessen ein „Europa der Vaterländer“ wünscht. Der, der Marine Le Pen zwar nicht ausstehen kann, aber nicht wegen ihrer nationalistischen Politik, sondern weil er ihre sozialistischen wirtschaftlichen Rezepte für Quatsch hält. Und der sich mit der ECR auch in eine Fraktion begibt, in der Abgeordnete der „Wahren Finnen“ oder der „Dänischen Volkspartei“ zwar nichts gegen „Ausländer“, aber viel gegen „Einwanderer“ haben.
Wer Hans-Olaf Henkel fragt, warum er Europa hasst, bekommt zur Antwort: „Ich liebe Europa. Wie könnte man den Kontinent nicht lieben, auf dem man lebt?“
Als die AfD bei der Bundestagswahl knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und im Dezember kurz vor der Auflösung stand, setzte er sich an die Spitze der Bewegung. Sämtliche Ämter in Aufsichtsratsgremien großer Firmen hat er für die Europakandidatur niedergelegt. Er gewährte der AfD ein privates Darlehen in Höhe von einer Million Euro, das die Partei durch den Europawahlkampf rettete.
In Straßburg nun hält er sich im Hintergrund. Zum Krawallmachen ist er nicht angetreten. „Das sollen die Jungen machen, die mehr Energie haben.“
Er bleibt ein Besucher
Wie abgesprochen ergreift denn auch die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch, 43, als erstes Mitglied des Parlaments überhaupt in der neuen Legislatur das Wort. Wie Gewehrsalven schießt sie ihre Sätze in den Sitzungssaal, nutzt einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung für eine Tirade gegen Parlamentspräsident Martin Schulz. Später wird sie sagen, ihr aggressiver Ton sei der Aufregung geschuldet gewesen. Die Abgeordneten im Saal bekommen davon ohnehin wenig mit. Die Übersetzung über Kopfhörer in die 24 Sprachen der Europäischen Union lässt jede noch so energisch vorgetragene Wutrede klingen wie die Hörbuchversion einer Gebrauchsanweisung. Von Storch kann das egal sein, ihr Auftritt soll vor allem eine Botschaft für die deutschen Wähler sein.
Denn die sollen bei den Landtagswahlen im August und September die AfD in die Parlamente von Thüringen, Sachsen und Brandenburg wählen. Das Zwischenspiel im Europaparlament soll den Weg dahin ebnen. „Wenn wir erst in drei Landtagen sind, kriegt uns keiner mehr weg“, sagt Henkel kampfeslustig. Und wenn der Bernd, wie er sagt, also Parteichef Lucke, erst einmal eine wirtschaftspolitische Rede im Bundestag halte, dann sei sein Ziel erreicht. Die Abschaffung des Euro, sie gelinge, wenn überhaupt, nur von Deutschland aus.
Der Tag im EU-Parlament war lang, die Sitzungen anstrengend. „Ich glaube nicht, dass ich da jeden Tag sitzen werde“, sagt Henkel am Abend. Die wenige freie Zeit vor der nächsten Besprechung nutzt er für einen letzten Rundgang, trifft im Untergeschoss auf Besuchergruppen. Mit kindlicher Freude stellt er sich zu einer Schulklasse, die gerade vor den Fahnen der 28 EU-Mitgliedsstaaten für ein Foto mit ihrem SPD-Abgeordneten posiert. „Noch ein Foto“, ruft er. „Und noch eins, zur Erinnerung.“ In Europa bleibt er nur ein Besucher. Als jemand ihn fragt, ob er später in seinem Büro anzutreffen sei, ist Henkel verdutzt. „Was soll ich da? Aus dem Fenster gucken?“
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Dieser Text erschien auf der Reportageseite.
Sidney Gennies