Vor dem Gipfel in Buenos Aires: Hamburg ist seit G20-Krawallen eine gespaltene Stadt
Der G20-Gipfel 2017 war für Hamburg eine Zäsur. Die Wunden der Krawalle sind noch da. Linke Aktivisten schließen ihre Reihen – und die Fronten sind verhärtet.
Hamburg, 07.07.2017
Zwei Frauen treten auf. Sie sind schwarz gekleidet, ihre Gesichter glitzern im Scheinwerferlicht. Hinter ihnen: Panzer, Polizisten, Menschenmassen – aufgenommen mit Handkameras, projiziert auf schmale Leinwände, die von der Decke hängen. So beginnt im Herbst 2018 „Welcome to Hell“, eine dokumentarische Konzert-Performance, die keine Antworten auf den Hamburger G20-Gipfel gibt, sondern das Geschehene exorziert, um es zu verarbeiten. Ein beklemmendes Gefühl entsteht, das die Zuschauer zurückwirft in jene Tage, als ihre Stadt brannte.
Diese Performance im Theater Kampnagel verarbeitet den Chaos-Gipfel künstlerisch, was auch bitter nötig erscheint. Denn auch anderthalb Jahre später spalten jene Tage im Juli 2017 die Stadtgesellschaft. Konservative Politiker und Bürger sehen vielfach Linksradikale am Werk, die da mit Unterstützung durch die politische Linke weiterhin ihr Unwesen treiben. Auf der anderen Seite der Barrikade scharen sich die Aktivisten, die das überharte Vorgehen der Polizei kritisieren. Über die Gewalteskalation wird immer noch debattiert. Schon steht in Buenos Aires der nächste G20-Gipfel an – mit Hamburgs Innensenator Andy Grote als Berater.
Während in der Aufarbeitung selbstkritische Stimmen kaum hörbar waren, sind sie von der Theaterbühne aus zumindest wahrzunehmen. „Ob die, von denen gesprochen wird, sich überhaupt vertreten fühlen von Typen mit Sonnenbrillen und Kapuzen?“, fragt eine Darstellerin. Sie klagt an, dass das Anti-Sein, wie bei der Antifa, leichter ist, als für etwas zu sein. Sie spricht von Utopien, die im Chaos unterzugehen drohen. Während Hamburg brannte, gab es an der Davidwache einen spontanen Rave, untermalt von Blaulicht. Ein Moment der Freude in der sich auflösenden Stadt. Doch es gab auch viele andere.
Dass die gesellschaftliche Aufarbeitung des Gipfels so schiefläuft, liegt auch daran, wie die juristische und politische Aufarbeitung gelaufen sind. Symptomatisch dafür steht der G20-Sonderausschuss der Bürgerschaft, der erst im Spätsommer dieses Jahres seine Arbeit einstellte – ohne einen gemeinsamen Abschlussbericht. Jede Fraktion schrieb ihr eigenes Fazit.
Für die Linke ist längst nicht alles aufgearbeitet
Christiane Schneider saß für die Linke in diesem Sonderausschuss. Nun sitzt sie im parteiinternen Konferenzraum unweit der schicken Binnenalster. Auf dem Tisch: lauwarmer Filterkaffee. Sonst: Wartezimmercharme. Hier will jemand mit Inhalten punkten, nicht mit Deko. „G20 hat zu keinen politischen Konsequenzen geführt“, kritisiert sie. „Nicht für die schweren Belastungen, die er für die Stadt bedeutete, nicht für die Rechtsbrüche und Grundrechtsverletzungen.“ Für Schneider ist längst nicht alles aufgearbeitet.
„Ich bin gegen Gewalt, aber wenn Menschen ein Gefühl der Ohnmacht haben, dann verstehe ich, wo die herkommt“, sagt sie. Sie selbst fordert eine neue Gewaltdebatte innerhalb der gesellschaftlichen Linken. Aber auch eine politische Gewaltdebatte müsste ihrer Meinung nach angestoßen werden. Wie geht der Staat mit Protest um? Das ist nur eine Frage, die Schneider umtreibt.
Eine andere Frage ist die nach den richtigen Worten. Beispielsweise werde der Begriff „Linksextremismus“ seit G20 inflationär und pauschal gebraucht, um linken Protest zu diskreditieren. Was dazu nicht passt, fände medial kaum Beachtung. „Es gibt so eine großartige Protestkultur“, sagt Schneider und verweist auf „United against racism“, eine Großdemo gegen Rassismus, die im September friedlich durch Hamburg zog.
Der Innensenator? Lebt mitten auf St. Pauli
Der Aufruf zu dieser Demo ist noch heute auf einem großen Transparent zu lesen, das unweit des Wohnhauses von Andy Grote hängt, dem sozialdemokratischen Hamburger Innensenator. Er lebt mitten auf St. Pauli. Seit G20 gehört er bei vielen Anwohnern nicht mehr zum Kiez, auf ihn angesprochen, winken sie ab oder schimpfen los.
Grote selbst sieht auch die Gräben, die der G20-Gipfel in der Stadtgesellschaft hinterlassen hat. „In den Milieus, die schon vorher polizeikritisch waren, ist die Kritik jetzt noch mehr ausgeprägt“, sagt er am Telefon. Kurz ist es still in der Leitung. Dann sagt er: „Viele Linke sind leider überhaupt nicht selbstkritisch.“ Er verstehe aber auch, dass es viele als „unbefriedigend“ empfinden, wenn kein einziges Verfahren gegen Polizisten geführt wird, erklärt der Innensenator. Doch im Gegensatz zu Christiane Schneider sieht der Innensenator die Auseinandersetzung mit G20 deutlich geglückter. „Es gab eine umfangreiche Aufarbeitung. Ich werte es als Erfolg, dass wir weitgehend klären konnten, was passiert ist.“
Für die Aufarbeitung des Gipfels war auch die Sonderkommission „Schwarzer Block“ zuständig, die erst Ende September dieses Jahres aufgelöst wurde. Zeitweise arbeiteten in der Soko bis zu 180 Mitarbeiter, sie zeichneten für die bislang umfangreichste Öffentlichkeitsfahndung der Hamburger Polizei verantwortlich. 3400 Ermittlungsverfahren wurden geführt, darunter 723 Verfahren gegen 840 namentlich bekannte Beschuldigte. Zudem wurden europaweite Großrazzien gestartet. Etwa 30 Täter wurden bisher verurteilt. Auf der anderen Seite stehen bisher 148 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten, die meisten wegen Körperverletzung. 78 Verfahren wurden eingestellt, es gab weder Strafbefehle noch Anklagen.
Von Erfolg will die Hamburger CDU trotzdem nicht sprechen. Zumindest nicht, was den Sonderausschuss angeht. „Rot-Grün hat die versprochene Aufklärung zu den G20-Chaostagen in Hamburg nicht geliefert“, erklärte CDU-Fraktionschef André Trepoll. Er fordert die Schließung des linksautonomen Zentrums Rote Flora im Schanzenviertel. „Die einzige maßgebliche rot-grüne Konsequenz – eine Kennzeichnungspflicht für unsere Polizisten als Ausdruck des politischen Misstrauens – lehnen wir entschieden ab.“ Andy Grote schlägt also sowohl von links als auch von rechts starker Gegenwind ins Gesicht. Es war sicher schon mal einfacher, Hamburger Innensenator zu sein.
Sie zog für die G20-Proteste nach Hamburg
Nicht weit von Grotes Wohnhaus sitzt Emily Laquer, Sprecherin der Interventionistischen Linken, in einem Café mit einem Milchkaffee. Die Interventionistische Linke (IL) bezeichnet sich selbst als „Zusammenschluss linksradikaler Gruppen und Einzelpersonen aus der undogmatischen und emanzipatorischen Linken im deutschsprachigem Raum“. Der Verfassungsschutz zählt 800 bis 1000 Mitglieder. Emily Laquer, die mehr nach der von ihr beruflich ausgeübten Verlagstätigkeit aussieht als nach ihrer radikalen Sprecherrolle, widerspricht dieser Zahl nicht.
Die 31-Jährige war Organisatorin der Blockade-Aktion „Block G20“ und eine der drei Personen, die im Vorfeld des G20-Gipfels vom Verfassungsschutz auf eine Liste der „Gefährder“ gesetzt worden waren. Laquer sieht diesen Fall eher gelassen. Sie hätte keine Angst gehabt, während G 20 auf die Straße zu gehen. Viele Passanten hätten ihr sogar die Hand geschüttelt und sich bedankt.
Emily Laquer kommt ursprünglich aus Nürnberg, wohnte zuletzt in Leipzig und ist für die G20-Proteste nach Hamburg gezogen – und geblieben. Sie zählt sich zur „Generation Heiligendamm“, also dem Protest gegen den G8-Gipfel an der Ostsee im Jahr 2007, bei dem sie politisch sozialisiert worden sei. Inzwischen bezeichnet sich Laquer als „selbstbewusste radikale Linke“, die der Idee der IL folgt – raus aus dem Kiez, rein in die Gesellschaft. „Wir wollen gesellschaftlich sichtbar sein, mitreden und Gesicht zeigen. Der schwarze Block ist daher meistens nicht unser Style.“
Diese Öffentlichkeit, sie ist in den linken Stadtvierteln wie St. Pauli, Schanze und Altona seit dem Gipfel noch weiter von der politischen Mitte weggerückt, die in Hamburg erodiert. Denn genauso wie die Polizei auf der einen Seite in Grund und Boden verdammt wird, wurden die Beamten von Teilen der bürgerlichen Stadtgesellschaft mit Blumen und Kuchen überhäuft. Der Gipfel hat Extreme hervorgebracht.
„Wir rufen nicht zur Gewalt auf, denn die Gewalt ist in der kapitalistischen Gesellschaft immer schon da. Es geht darum, diese Gewalt abzuschaffen“, sagt Laquer, und präzisiert sogleich, was sie damit vor allem meint: „Erdogans massenhafte Inhaftierung von Oppositionellen, Trumps Kriege, die Abschiebungen und Mittelmeertote der Bundesregierung.“
Die brennenden Barrikaden bei G20 sieht sie als Sachbeschädigung. „Ich bin immer mehr auf der Seite der Protestierenden und Empörten als auf der Seite von Erdogan und Trump. Es gab einige Aktionen bei G20, die unserer Botschaft von Solidarität und Hoffnung nicht geholfen haben. Das klären wir aber durch solidarische Diskussion, nicht durch öffentliche Distanzierung.“ Insgesamt wertet sie G20 als Erfolg, weil der Gipfel viele Menschen aus dem linken Milieu zusammengebracht hat. „Es gab eine kollektive Zurückweisung gegen den von den Behörden verhängten Ausnahmezustand.“
G20 wirkt sogar beim FC St. Pauli nach
Betroffen von diesem Ausnahmezustand waren vor allem die Bewohner der Viertel Schanze und St. Pauli – wie Kim und Bronko. Sie sitzen in einer Kneipe in der Nähe des Millerntor-Stadions, sind 27 und 29 Jahre und gehören zur aktiven Fanszene des FC St. Pauli, präziser soll es nicht in der Zeitung stehen. Sie wollen den Vereinsausschluss von Grote, der Mitglied und bekennender Anhänger des Fußball-Zweitligisten ist. Ein riesiges Transparent, das genau das fordert, tauchte zum ersten Mal kurz nach G20 auf. „Für die Fans ist seine Mitgliedschaft nicht haltbar“, sagt Bronko, abrasiertes Haar, schwarz gekleidet, und bestellt einen Ingwertee. Vor ein paar Stunden saßen die beiden noch am Millerntor bei einem St.-Pauli-Spiel.
Nach St.-Pauli-Spielen ziehen die Fans oft noch durch ihr Viertel. Seit G20 würde der traditionelle Marsch häufiger von der Polizei angegangen, erzählt Kim, Piercings im Gesicht, grauer Pulli. Doch das sei nicht die einzige Auswirkung auf den Fußball, die G20 verursacht hat. Das Stichwort „digitale Gesichtserkennung“ fällt in der Kneipe, die voll ist mit Totenkopf-T-Shirts von St. Pauli. „Wir Fans haben einen miesen Ruf, deshalb wird an uns viel getestet“, sagt Bronko und beißt in ein Ingwerstück. Zudem kritisiert er, dass sich die Öffentlichkeitsfahndung seit G20 auch auf den Fußball ausgeweitet hat.
„Die haben aufgerüstet, treten martialischer auf“
Kurz vor dem Hamburger Stadtderby startete die Polizei mit einer großen öffentlichen Fahndung nach HSV-Ultras, die Pyrotechnik gezündet hatten. „Die Bullen sind in Hamburg ein eigenständiger politischer Akteur, der den Rechtsstaat gefährdet“, sagt Bronko. Kim fügt hinzu: „G20 hat sich für die Polizei gelohnt. Die haben aufgerüstet, treten martialischer auf. Die Frage ist: Wann fallen diese Mittel den Rechten in die Hand?“
Sie und die aktive Fanszene von St. Pauli setzen sich schon lange gegen Rassismus und den Rechtsruck in Deutschland ein. Sie bringen politische Spruchbänder ins Stadion, besuchen Flüchtlingsheime und laden Geflüchtete zu Fußballspielen ein. „Man muss den Rechten stärker entgegentreten“, findet Kim. „Es macht einfach keinen Sinn, auf Gewalt zu verzichten, solange wir in solchen gewalttätigen Verhältnissen leben“, sagt Bronko. Und Gewalt gegen Nazis finden die beiden St. Pauli-Fans grundsätzlich in Ordnung. Und bei G20? „Es gab da schon Leute, die einfach Bock drauf hatten, für die Randale anzureisen – und das, was zum Teil in der Schanze passiert ist, war kontraproduktiv“, meint dazu Bronko. „Es ist angesichts des Vorgehens der Polizei zweifelhaft, inwiefern Demonstrationen überhaupt noch zweckmäßig sind. Zumal Demo-Rechte nach Belieben eingeschränkt werden.“
Wer in diesen Tagen durch die Sternschanze läuft, sieht im Stadtbild heute noch die Wunden, die G20 hinterlassen hat. Da, wo einst die Sparkasse stand, bevor sie in der Krawallnacht demoliert wurde, ist ein großes Bauloch zu sehen. Und vom Schulterblatt 1, dem Haus im Zentrum der Krawalle, ist auch nur noch Schutt geblieben. Von der Fassade des Nachbarhauses prangt ein Graffito: G20 angreifen.