Interview mit deutschem EU-Kommissar: Günther Oettinger watscht Cameron ab
Den Wutanfall des britischen Premiers Cameron zu Nachzahlungen an Brüssel kontert EU-Kommissar Oettinger trocken: "Das hätte er sich selbst ausrechnen können." Lesen Sie hier das ganze Interview.
Herr Oettinger, was muss die neue EU-Kommission tun, damit die Bürger wieder an Europa glauben?
Wir Europäer müssen dort wieder wettbewerbsfähig werden, wo wir es nicht mehr sind, und dort wettbewerbsfähig bleiben, wo wir es noch sind. Das Vertrauen in Europa hängt entscheidend davon ab, ob wir am globalen Markt mit unseren Produkten mithalten und so Arbeitsplätze schaffen können.
Das genügt?
Bei Arbeitslosigkeitsraten von 15 bis 20 Prozent und einer Jugendarbeitslosigkeit von 40 Prozent in einzelnen Mitgliedstaaten ist wirtschaftlicher Erfolg die Grundlage von allem. Aber natürlich sollte Europa nicht nur S-Klassen, sondern auch Werte exportieren. Als Friedensprojekt und Wertegemeinschaft ist die EU notwendiger denn je.
Was sollte die Kommission mit Blick auf das Ansehen der EU in Zukunft besser unterlassen?
Es geht eher darum, wie andere auf die Arbeit und Vorschläge der EU-Kommission reagieren. Konstruktive Kritik ist immer willkommen. Der Ton muss aber stimmen. Die Art und Weise, wie führende Politiker in Paris, Rom oder London in den vergangenen Tagen unsere Pflicht zur Kontrolle nationaler Haushaltsentwürfe kritisiert haben, ist nicht akzeptabel. Wer so auftritt, schadet dem Ansehen Europas und seiner Mandatsträger.
Was will die Kommission dagegen unternehmen?
Wenn Englands Premier David Cameron einen Wutanfall bekommt, weil er mehr in die EU-Kasse einzahlen soll, dann müssen wir in der Sache hart bleiben. Denn die Nachzahlungen für Großbritannien beruhen auf einer Formel, die sich am Bruttoinlandsprodukt und an der Wirtschaftsleistung orientiert. Cameron hätte sich das also selbst ausrechnen können. Das ist eine logische Rechenaufgabe, aufgrund einer Formel, die von allen akzeptiert wurde.
Der neue Kommissionschef Jean-Claude Juncker will Europas Wirtschaft mit einem Konjunkturprogramm in Höhe von 300 Milliarden Euro auf die Beine helfen. Einverstanden?
Das kommt darauf an, wie man sie konfiguriert. Wir müssen darauf achten, dass aus diesen 300 Milliarden von Herrn Juncker, die ja vor allem Privatinvestitionen sein müssen, in Infrastruktur investiert wird.
Junckers Wachstumspaket würde nur ein Strohfeuer auslösen?
Das kommt darauf an, wie es aufgelegt wird. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn Sie eine schöne neue Stadthalle mit Geldern aus den Strukturfonds bauen, dann beschäftigt das zunächst zwar Handwerker. Später aber kostet die Halle Geld fürs Heizen und den Hausmeister. Sie bringt keine weitere Wertschöpfung, die Investition ist nicht nachhaltig. Wenn sie dagegen in eine digitale Infrastruktur investieren, bringt das nicht nur Aufträge im Tiefbau, sondern verbessert die digitale Vernetzung Europas dauerhaft. Das bringt Jobs. Meine Vorschläge für Investitionen in die digitale Infrastruktur sowie in Gasnetze und Stromtrassen werde ich Juncker nächste Woche unterbreiten.
Sind neue Schulden zur Finanzierung des Wachstumspakets tabu?
Ja. Die Europäische Union darf ja gar keine Schulden machen. Wir dürfen die Investitionen auch nicht über den Umweg Euro-Rettungsschirm oder Europäische Investitionsbank auf Pump finanzieren.
Will Juncker nicht genau das?
Er hat sich dazu noch nicht genauer öffentlich erklärt.
Woher soll das Geld dann kommen?
Ich würde bei den Milliarden für die regionale Entwicklung umsteuern. Es sollten in den kommenden drei Jahren nur noch Gelder aus den Strukturfonds für Projekte freigegeben werden, die einen dauerhaften Effekt auf Arbeitsmarkt, Wertschöpfung und Wachstum haben. Für alle anderen Vorhaben sollte ein Ausgabenstopp gelten.
Unter dem Druck der Kommission müssen Italien und Frankreich jetzt ihre Sparanstrengungen verstärken. Sind Sie sicher, dass die Konjunktur in beiden Ländern dadurch nicht noch mehr leidet?
Es geht um insgesamt fünf Länder, Frankreich und Italien gehören dazu. Sie müssen in der Tat Reformen nachholen. Die Franzosen haben eine Staatsquote von 57 Prozent am Bruttoinlandsprodukt. Wie sollen da noch mehr Schulden und eine noch höhere Staatsquote Wachstum bringen?
Was passiert, wenn es mit Frankreich und Italien weiter bergab geht?
Dann kann die Euro-Krise mit Wucht zurückkehren. Die Märkte müssen darauf vertrauen können, dass Italien und Frankreich ihre Schulden zurückzahlen und sich reformieren. Dieser Prozess muss jetzt beginnen. Es gibt dazu keine Alternative. Die Franzosen verlieren bei einigen Produkten zunehmend ihre globale Wettbewerbsfähigkeit und haben hohe Personalkosten in der öffentlichen Verwaltung.
Wie wichtig ist die Digitalisierung für Europas Erfolg als Wirtschaftsmacht?
Sie ist entscheidend. Deshalb brauchen wir eine schnelle Europäisierung der digitalen Politik. Ich werde einen Zeitplan für den Ausbau des schnellen und flächendeckenden Internetzugangs entwickeln. Außerdem brauchen wir eine Aufteilung, was die EU finanzieren soll, was der Mitgliedstaat, was die Region und was die Kommunen. Wichtig ist auch, dass Mittel von Privatinvestoren kommen. Gerade im digitalen Bereich reicht eine geringe Anreizfinanzierung, um große Summen zu mobilisieren.
Wie steht es um ein europäisches Datenschutzrecht?
Auch Unternehmen, die im digitalen Bereich ihr Geld verdienen, wie etwa Google, sollen sich an unsere Regeln halten. Doch sie dürfen sich nicht den EU-Staat aussuchen können, der das geringste Schutzrecht oder die lascheste Kontrolle hat. Es braucht ein einheitliches Recht.
Wie wollen Sie deutsche Unternehmen wie die Telekom global stärken?
Indem wir einen echten einheitlichen Binnenmarkt für Kommunikationsdienstleistungen schaffen. Die digitale Wirtschaft wird immer wichtiger und ich werde öffentlich für ihre Interessen eintreten. Ich werde bestimmt nicht fünf Jahre nur Algorithmen herunterbeten.
Das Gespräch führten Elisa Simantke, Gerd Appenzeller, Stephan Haselberger und Stephan-Andreas Casdorff