Experte warnt vor Influenza-Gefahr: „Grippeviren könnten aggressiver geworden sein“
Der Impfexperte Klaus Wahle fürchtet, dass die Gefahr durch Influenza aus dem Blick gerät. Dabei könnten die Risiken durch Corona gestiegen sein.
Rechnen Sie aufgrund von Corona für die kommende Saison mit einer größeren Bereitschaft zur Grippeimpfung als in früheren Jahren?
Nein, leider. Für viele hat die starke Beschäftigung mit Corona-Impfungen in den vergangenen Monaten alles absorbiert. Das Thema Influenza, die Gefahren dieser Erkrankung und die Notwendigkeit einer Impfung auch dagegen spielen im öffentlichen Bewusstsein momentan kaum eine Rolle.
Tatsächlich gab es im Herbst 2020 eine deutlich höhere Influenza-Impfquote, weil man Angst vor Corona hatte und sich dadurch schon mal einen gewissen Schutz versprach. Teilweise gab es sogar die Sorge, dass der Grippeimpfstoff nicht reichen könnte. Warum ist diese Bereitschaft jetzt wieder verschwunden?
Sie haben recht, damals stand die Angst vor einer Ko-Infektion von Corona und Influenza im Vordergrund. Aufgrund der Pandemie und dem Kampf dagegen ist diese Sorge bei vielen in den Hintergrund gerückt. Umso stärker müsste den Menschen jetzt deutlich gemacht werden, welche Gefahr auch in der kommenden Saison durch zusätzliche Influenza-Infektionen droht. Das fehlt mir im Augenblick. Dabei wäre es ganz wichtig: Die Risiken dieser Erkrankung müssen deutlicher gemacht und die Schutzmöglichkeiten viel stärker als bisher „beworben“ werden.
Man könnte argumentieren: Im vergangenen Winter gab es diesmal doch gar keine Grippewelle. Oder vielleicht auch: Durch die Corona-Impfung ist mein Immunsystem ohnehin schon stark gefordert, da will ich es nicht mit zusätzlichen Impfungen überlasten…
Solche Argumente gibt es natürlich, doch sie müssen korrigiert werden. Die Grippewelle sowie auch weitere Atemwegserkrankungen blieben aus wegen der AHA-Regeln. Und die Corona-Impfung belastet das Immunsystem nur geringgradig. Klar ist: Die nächste Grippewelle wird kommen. Und weil keiner weiß, wie ausgeprägt sie sein wird, sollten wir uns auf jeden Fall frühzeitig durch eine Impfung schützen.
Wie hoch ist denn nach der ausgebliebenen Grippewelle im vergangenen Winter die Wahrscheinlichkeit, dass die in der Entwicklung befindlichen Impfstoffe gegen die Grippeerreger der kommenden Saison wirken? Die WHO muss sich ja immer schon sehr früh auf die wahrscheinlichsten Erregerstämme festlegen, weil die Produktion so lange dauert.
Es könnte tatsächlich sein, dass die Treffsicherheit und damit auch der Grippeschutz diesmal geringer ausfallen wird als gewohnt. Das liegt daran, dass auch in Südostasien, wo die WHO das Influenza-Geschehen ein halbes Jahr vorher beobachtet, aufgrund des noch strikteren Corona-Hygieneverhaltens, keine Grippewelle stattgefunden hat. Deshalb war es in diesem Frühjahr besonders schwierig, die dort zirkulierenden Influenza-Viren sicher zu identifizieren und in die Produktion für die nördliche Hemisphäre zu geben. Und die zweite Frage ist ja immer: Entsprechen die in Asien zirkulierenden Viren tatsächlich dann auch denen, die ab Oktober in Europa aktiv sind? Da ändert sich ja immer einiges auf der „Reise“ der Viren von Südosten nach Nordwesten. Festzuhalten bleibt aber: Auch bei einer geringeren Wirksamkeit wird ein gewisser Schutz durch die Impfung auf jeden Fall vorhanden sein, vor allem gegen schwere Influenza-Verläufe.
Wenn sich herausstellt, dass man auf falsche Virenstämme gesetzt hat, lässt sich nichts mehr ändern?
Nein. Die Produktion der Impfstoffe erstreckt sich ja bis zur Auslieferung über teilweise mehr als sechs Monate. Der Standard dabei ist nach wie vor Ei-basiert. Das heißt, Sie brauchen eine hohe Anzahl von Hühnereiern, die bebrütet werden – das dauert seine Zeit. Ein moderneres Verfahren, das eine etwas schnellere Herstellung ermöglicht, ist die Produktion auf Zellkulturen. Aber auch das zieht sich über Monate.
Seit der Grippesaison 2018/2019 bezahlen die gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr nur einen Dreifach-, sondern einen Vierfach-Impfstoff. Das bedeutet: Das Risiko, bei den Virenstämmen danebenzugreifen, ist geringer geworden. Ließe sich das nicht noch erweitern, könnten nicht noch mehr Stämme in den Impfstoff gepackt werden?
Ich glaube nicht, dass sich an der Zusammensetzung der Impfstoffe groß etwas ändern wird. Natürlich gibt es weitaus mehr Influenza-Stämme als die bislang vier in den Impfstoffen erfassten. Aber wir wissen: Die wichtigsten sind die A- und die B-Virenstämme. Von letzteren gibt es ohnehin nur zwei, die jedes Jahr mit abgedeckt werden. Die schwersten und weitreichendsten Krankheitsausbrüche werden aber von den Influenza-A-Viren verursacht. Und diese A-Stämme ändern sich von Saison zu Saison; deshalb müssen die relevanten immer neu definiert werden. Besonders gefürchtet ist hier der Stamm H3N2, weil er eine ausgeprägte schwere klinische Symptomatik verursachen kann. Er ist seit vielen Jahren bekannt, ändert sich aber jedes Jahr ein kleines bisschen. Das sind geringe Mutationen, auf die die WHO reagieren muss – mit allen Unsicherheiten.
Könnten die Lockdown-Maßnahmen gegen Corona auch zu Mutationen der Grippeviren geführt und diese womöglich aggressiver gemacht haben?
Das ist durchaus denkbar. Der sogenannte Selektionsdruck besteht ja nicht nur bei den Coronaviren. Dadurch, dass immer mehr Menschen geimpft sind und durch die sogenannten AHA-Regeln, sehen sich die Erreger veranlasst, sich durch Mutationen besser an die schwieriger gewordenen Verbreitungsmöglichkeiten anzupassen. Das trifft sicherlich auch auf das Influenza-Virus zu.
Lässt sich die mRNA-Impfstofftechnologie, die jetzt in der Coronakrise den großen Durchbruch erfahren hat, auch für Grippeimpfstoffe nutzen? Und wenn ja, was wären die Vorteile?
Die mRNA-Technologie könnte die Influenza-Impfstoffe sogar ganz deutlich verbessern. Wir bekämen dadurch wahrscheinlich nicht nur bessere, stärker wirksame Vakzine, sondern hätten auch den Vorteil einer massiv beschleunigten Produktionsmöglichkeit. Dadurch wären wir dann wohl auch in der Lage, weit kurzfristiger auf Veränderungen der Virenstämme zu reagieren und so die Treffsicherheit zu erhöhen.
Womöglich wirkt sich ja unser jetzt in der Pandemie eingeübtes Hygieneverhalten, also etwa gründliches Händewaschen oder Abstandhalten, künftig auch positiv auf den Grippeschutz aus?
Dass das wirkt, haben wir bereits in der Saison 2020/2021 erlebt. Durch verändertes Hygieneverhalten, kombiniert mit Lockdown-Maßnahmen, blieb die befürchtete Influenza-Welle aus. Auch andere Erkältungskrankheiten, etwa hervorgerufen durch sogenannte RS-Viren, kamen nicht wirklich zur Ausprägung.
Sollten wir in den Wintermonaten deshalb weiterhin beim Einkaufen oder im öffentlichen Nahverkehr Masken tragen?
Ich persönlich hätte kein Problem damit. Es ist aber die Frage, was man der Bevölkerung weiter zumuten kann. Das Maske-Tragen im Freien wohl mit Sicherheit nicht. Aber vielleicht gibt es ja die Einsicht, dass es im Herbst und Winter zumindest in geschlossenen Räume hilfreich wäre. Beim Einkaufen, beim Postamt, in der Bank und im Bus. Aus meiner Sicht wäre das eine empfehlenswerte Maßnahme.
In Südostasien trugen die Menschen schon lange vor der Corona-Pandemie im öffentlichen Raum Masken, um sich und andere vor Erkältungskrankheiten zu schützen. Warum ist das für die Menschen hierzulande so ein Problem?
Offenbar gibt es da deutliche kulturelle Unterschiede. In Asien geht es den Maskenträgern ja auch weniger darum sich selber zu schützen als die anderen vor ihren Viren zu bewahren. Das steckt in unserer Mentalität offenbar nicht so drin. Aber vielleicht kann es ja mit den Jahren antrainiert werden. Ich fände das sehr sinnvoll.
Was können und was sollten Politik und Gesundheitsorganisationen hierzulande zur besseren Grippe-Prävention tun?
Die wichtigste Maßnahme, die uns hier in Europa zur Verfügung steht, ist die Influenza-Impfung. Es muss stärker als bisher deutlich gemacht werden, dass sie einen wirklich guten Schutz darstellt – unabhängig von der von Jahr zu Jahr schwankenden Treffsicherheit. Fast auf die gleiche Stufe zu stellen wäre ein strikteres Hygiene-Verhalten. Wenn es uns gelingt, beides miteinander zu verknüpfen, macht mir die nächste Influenzawelle keine Sorgen. Sie wird dann nämlich nicht kommen. Doch um dieses Ziel zu erreichen, braucht es eine in sich schlüssige Strategie, um die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen zu überzeugen.
Können wir aus der Impfstrategie gegen Corona auch etwas für die Grippeimpfung lernen?
Einiges können wir tatsächlich übernehmen. Tatsächlich hat anfangs insbesondere die ältere Bevölkerung massiv unter Corona-Infektionen gelitten. Viele Ältere sind auf Intensivstationen gelandet und dort auch verstorben. Ähnlich das Risiko bei der Influenza: Die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen sind die über 60-Jährigen, mit Vorerkrankungen. Sie gilt es primär zu schützen, das funktioniert nur durch Impfung. Das sollten wir ganz deutlich machen. Aber neben den im langjährigen Mittel 15.000 bis 20.000 Grippe-Toten, die wir jährlich zu beklagen haben, dürfen wir nicht vergessen, dass die Influenza auch erheblichen volkswirtschaftlichen Schaden verursacht – durch Arbeitsunfähigkeit und Krankschreibung von Jüngeren. Das heißt, wir müssen die Impfbereitschaft der Jüngeren ebenfalls erhöhen und auch ihnen ein Impfangebot unterbreiten.
Bei der Corona-Impfung bräuchten wir aus Expertensicht mindestens eine Impfquote von 75, besser noch von 85 Prozent. Welche Quote würden Sie sich denn, realistischerweise, für die Grippeimpfung wünschen?
Ich würde mir tatsächlich auch für die Impfung gegen Influenza eine Quote von über 80 Prozent wünschen, um zu einer Herdenimmunität zu kommen. Das ist bisher noch nie gelungen. Tatsächlich kamen wir in den vergangenen Jahren im Durchschnitt auf Raten nur unter die 40 Prozent. Langfristig wäre es geboten, wenigstens irgendwann mal das von der WHO und auch von der EU vorgegebene Ziel einer Durchimpfungsrate von 75 Prozent für die ältere Bevölkerung zu erreichen.
Befürchten Sie, bei stärkerer Impf-Nachfrage, keine Lieferengpässe?
Tatsächlich haben wir das Problem, dass es beim Hochdosis-Impfstoff für die ältere Bevölkerung – den die Ständige Impfkommission für diese Personengruppe inzwischen ausschließlich empfiehlt – in dieser Saison nur einen einzigen Hersteller gibt. Das kann im Extremfall zu Lieferengpässen führen, denn jede produzierte Charge muss vom Paul-Ehrlich-Institut freigegeben werden. Dass bestimmte Chargen nicht freigegeben werden, passiert immer wieder mal – und in diesem Fall hätten wir sofort ein Problem. Das ist das Risiko, wenn man nur einen Impfstoff von nur von einem einzigen Hersteller produzieren lässt.
Die Gesundheitsminister haben beschlossen, besonders gefährdeten Gruppen ab September die Möglichkeit einer dritten Corona-Impfung einzuräumen. Dadurch könnten die Impfungen gegen Grippe und Covid-19 zeitlich zusammenfallen. Wäre das eine Erschwernis für nötige Influenza-Impfungen? Oder – im Gegenteil – eine Möglichkeit, mit dem Grippeschutz mehr Menschen zu erreichen?
Ich sehe das eher als Chance. In den USA wurde in einer Studie gerade belegt, dass eine sogenannte Co-Administration – also die gleichzeitige Gabe von Covid-19-Auffrischimpfung und Influenza-Impfung, komplikationslos möglich ist. Ich könnte mir eine solche Kombination als Impfstrategie für Deutschland und insbesondere für die ältere Bevölkerung durchaus vorstellen.
Professor Klaus Wahle ist Sprecher des Projekts Grippeschutz, einer Initiative von Infektionsschutz-Expert:innen mit dem Ziel, die Grippe-Immunisierung in Deutschland zu verbessern. Er ist niedergelassener Allgemeinarzt und war von 2004 bis 2011 Mitglied der Ständigen Impfkommission beim Robert-Koch-Institut.
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