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Migranten gehen Richtung Grenze. Griechenland hat am Freitag den Grenzübergang zur Türkei bei Kastanies/Pazarkule geschlossen.
© dpa/Ergin Yildiz/AP
Update

Türkei lässt Syrer zur EU-Grenze reisen: Griechische Polizei setzt Pfefferspray gegen Flüchtlinge ein

Syrer wie der 27-jährige Anas steigen in Istanbul in Busse, die sie zur EU-Außengrenze bringen. Griechenland und Bulgarien verstärken die Grenzsicherung.

Das Ziel heißt Stuttgart: Anas ist 27 Jahre alt und ein syrischer Medizinstudent aus Aleppo. Zusammen mit seiner Frau und seinen drei und sechs Jahre alten Kindern ist er am Freitagmorgen zur Vatan Caddesi gekommen, einer Istanbuler Ausfallstraße zur Autobahn Richtung Westen.

Mehrere Reisebusse stehen an der Straße bereit, die Flüchtlinge an die rund drei Fahrtstunden entfernte Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland bei Edirne bringen sollen. Den Grenzübergang hält die griechische Regierung allerdings am Freitag geschlossen.

Das griechische Staatsfernsehen (ERT) zeigte Bilder von Menschen, die auf der türkischen Seite des Grenzübergangs von Kastanies/Pazarkule warteten. Als einige Geflüchtete versuchten, über die Grenze zu kommen, setzte die Polizei Pfefferspray und Tränengas ein. Auch Bulgarien verstärkte die Grenzsicherung. Reporter vor Ort berichteten, auf der griechischen Seite seien zahlreiche Polizisten und Grenzschutzbeamte sowie Soldaten zusammengezogen worden.

„Wir haben in den sozialen Medien von den Bussen gehört und sind gekommen“, sagt Anas, bevor er in Istanbul in den Bus einsteigt. Die Eltern seiner Frau leben in Stuttgart – und nun will die junge Familie auch dorthin.

Hundert US-Dollar pro Passagier kostet die Busreise an die Grenze. Dass Anas und seine Familie jetzt im Bus sitzen, hat mit schweren Verlusten der Türkei im Krieg in der syrischen Provinz Idlib rund tausend Kilometer südöstlich von Istanbul zu tun.

Ebenfalls im Bus sitzt Azise, eine syrische Frau Mitte 50, die mit ihrem 14-jährigen Sohn gekommen ist.

Sie leben seit acht Jahren im südtürkischen Adana und waren auf Verwandtenbesuch in Istanbul, als sie von der Öffnung der Grenzen hörten. Nun wollen sie nach Essen, wo zwei andere Söhne von Azise Zuflucht gefunden haben. „Wenn sie uns lassen, wenn sie uns nur gehen lassen“, sagt der 14-jährige immer wieder. Ein anderer Passagier, ein 24-jähriger Student aus dem Süden Syriens, hat sich mit seiner Schwester und seinem kleinen Bruder drei Bustickets besorgt. Die Eltern wurden im Krieg getötet, nun wollen sie nach Norwegen.

Flüchtlinge setzen sich an der türkischen Westküste in Boote

Mehrere Flüchtlinge an der Vatan Caddesi sagen, in der Türkei, die 3,6 Millionen Syrer aufgenommen hat, gebe es für sie keine Perspektive. „Es sind einfach zu viele Syrer hier“, sagt ein junger Mann, der sich bisher mit Jobs im Textilsektor durchgeschlagen hat und jetzt in die EU will.

Flüchtlinge vor einem Bus in Istanbul.
Flüchtlinge vor einem Bus in Istanbul.
© Susanne Güsten / Tsp

„Alles ist besser als die Türkei“, sagt ein junges Paar, das aus Idlib geflohen ist. Ein junges Ehepaar mit einem etwa einjährigen Kind steigt im letzten Moment aus dem abfahrbereiten Bus wieder aus: „Wir haben Angst um unser Kind“, sagt der Vater. „Wir wissen ja nicht, wie es nach der Grenze weitergeht.“

Eigentlich hat sich die Türkei unter dem Flüchtlingsabkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 verpflichtet, die Syrer an der Flucht nach Europa zu hindern. Doch nun sollen die Flüchtlinge drei Tage lang freie Fahrt nach Westen erhalten, melden türkische Medien.

Der türkische Kommunikationsdirektor sprach angesichts der Eskalation in Syrien von einer Lockerung der Kontrollen an den Grenzen zur EU für Flüchtlinge. Die Türkei bemühe sich intensiv darum, eine Bleibe für Flüchtlinge zu finden, werde dabei aber alleine gelassen. Deswegen bleibe ihr „nur noch ein einziger Schritt übrig“, sagte Fahrettin Altun nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu am Freitag vor Journalisten. Die Türkei habe keine andere Wahl, als ihre Bemühungen zur Eindämmung des Flüchtlingsdrucks zu lockern.

Unklar blieb bei Altuns Formulierung, ob die Türkei die Kontrollen schon gelockert hat oder dies erst vorhat. Zuvor hatte es aus dem Außenministerium noch geheißen, „in der Flüchtlings- und Migrationspolitik unseres Landes, das die meisten Flüchtlinge in der Welt aufgenommen hat, gibt es keine Änderung“.

Die Syrer an der Vatan Caddesi sagen, sie hätten von einer 24-stündigen Frist gehört. Deshalb haben sie sich auf den Weg gemacht. Bei Edirne waren in der Nacht schon die ersten syrischen Flüchtlinge aufgetaucht, die auf den Grenzübergang Pazarkule zuliefen, ohne dass die türkischen Grenztruppen einschritten. Andere wurden von ihnen aber aufgehalten. Nach Medienberichten wurde zudem ein Grenzübergang nach Griechenland von der türkischen Seite geschlossen. Einige Flüchtlinge steckten demnach im Niemandsland fest, da sie nicht nach Griechenland einreisen durften.

Die Türkei will ganz offensichtlich ein klares Signal nach Europa senden: Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu verbreitet Luftaufnahmen einer Drohne, die Flüchtlinge auf einem Acker an der Landgrenze auf dem Weg nach Griechenland zeigen. An der türkischen Westküste setzen sich andere Flüchtlinge in Boote, um auf die nahen griechischen Inseln zu fahren.

[Mehr zum Thema: Eskalation in Syrien – Erdogan und Putin können nur Gewalt]

Von Edirne aus will sich Anas mit seiner Familie nach Griechenland durchschlagen. „Wir hoffen, dass wir über die Grenze kommen, und dann müssen wir sehen, wie wir weiterkommen“, sagt er

Flüchtlinge in einem Bus in Istanbul. Sie wollen in die EU.
Flüchtlinge in einem Bus in Istanbul. Sie wollen in die EU.
© Susanne Güsten / TSP

Immer mehr Syrer treffen an der Abfahrtstelle an der Vatan Caddesi ein, um einen Platz in einem der Busse zu ergattern. Der erste Bus fährt gegen 8 Uhr MEZ los, der zweite eine Stunde später. Inzwischen haben sich Dutzende Flüchtlinge versammelt, und fast im Minutentakt treffen neue ein.

Syrische Aktivisten sagen, sie hätten die Busse selbst angemietet. Ein Sprecher der türkischen Regierungspartei AKP hatte am Vorabend im Fernsehen gesagt, sein Land könne die Flüchtlinge nicht mehr halten.

Mehrmals hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in den vergangenen Monaten angekündigt, er werde die Tore öffnen und massenweise Syrer nach Europa schicken.

Zeichen von Panik und Verzweiflung in Ankara

Bisher hatte sich die türkische Regierung trotzdem an das Abkommen mit der EU gehalten, vor allem weil ihr Land zum Magneten für Millionen von Menschen aus ganz Zentralasien, Nahost und Afrika werden könnte, wenn der Vertrag aufgekündigt wird.

Dass Erdogan nun zumindest vorübergehend das Abkommen aussetzen will, ist ein Zeichen von Panik und Verzweiflung in Ankara: Die Türkei steht im Syrien-Krieg vor einem Desaster und will den Westen deshalb auch über die Nato zum Eingreifen bewegen.

[Mehr zum Thema: Kampf um syrisches Rebellengebiet Idlib – Türkei fordert nach Tod ihrer Soldaten Beistand der Nato]

Mindestens 33 Soldaten waren am späten Donnerstagabend bei einem Angriff der syrischen Luftwaffe in der Provinz Idlib ums Leben gekommen. Die Soldaten hatten in einem requirierten Rathaus und einem anderen Gebäude südlich der Provinzhauptstadt Idlib übernachtet, als die Bomben fielen. Die Soldaten wurden unter den einstürzenden Gebäudeteilen begraben. Damit sind seit Anfang des Monats mehr als 50 türkische Soldaten in Idlib getötet worden.

Auch Erdogans Syrien-Politik liegt damit in Trümmern.

Flüchtlinge warten vor einem Bus in Istanbul.
Flüchtlinge warten vor einem Bus in Istanbul.
© Susanne Güsten / TSP

Er hatte die türkische Armee nach Idlib geschickt, um die mit Ankara verbündeten Rebellen in der letzten Bastion der Regierungsgegner in Syrien vor dem Vormarsch der syrischen Armee zu schützen und eine neue Fluchtwelle von rund einer Million Menschen aus der Provinz zu verhindern. Gleichzeitig will Erdogan mit dem Militäreinsatz ein Mitspracherecht der Türkei bei Entscheidungen über die Zukunft Syriens durchsetzen.

Auseinandersetzung zwischen dem Nato-Land Türkei und Russland

Erdogan, der im Syrien-Konflikt einen Sturz von Präsident Baschar al-Assad anstrebt, hat der syrischen Armee ein Ultimatum gesetzt: Bis zu diesem Samstag sollen sich die Regierungsverbände aus Idlib zurückziehen, sonst werde die türkische Armee nachhelfen.

Da Russland die Einheiten Assads unterstützt, drohen damit auch Auseinandersetzungen zwischen dem Nato-Land Türkei und der russischen Luftwaffe. Offenbar hoffte Erdogan darauf, dass Russland und Syrien im letzten Moment nachgeben und eine Rolle der Türkei im Nachkriegs-Syrien akzeptieren.

Der Tod der 33 Soldaten wirft Erdogans Pläne über den Haufen. Russland hat in Idlib die Lufthoheit und will der Türkei nicht entgegenkommen. Das Moskauer Verteidigungsministerium erklärte am Freitag, die von dem syrischen Luftangriff getroffenen Soldaten seien zusammen mit „Terroristen“ im Einsatz gewesen: So bezeichnen Russland und Syrien die Türkei-treuen Rebellen.

Kreml nimmt keine Rücksicht mehr auf die Türkei

Die Eskalation hängt eng mit der drastischen Verschlechterung der türkisch-russischen Beziehungen in den vergangenen Wochen zusammen. Über Jahre kooperierten Ankara und Moskau in Syrien, obwohl sie auf verschiedenen Seiten des Konflikts stehen.

Doch in Idlib können sie ihre Interessengegensätze nicht mehr ausblenden.

Der Kreml will den Syrien-Krieg mit einem Erfolg Assads in Idlib beenden und nimmt keine Rücksicht mehr auf die Türkei. Russland wolle die Türkei aus Syrien herausdrängen, schrieb Burhanettin Duran, ein außenpolitischer Berater Erdogans, in der Zeitung „Daily Sabah“.

In ihrer Not spielt die Türkei nun die Flüchtlingskarte und will so die Hilfe ihrer westlichen Partner einfordern, die sie in den vergangenen Jahren unter anderem mit dem Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400 verärgert hatte.

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