Scheuer und die Fahrverbote: Grenzwertdebatte - Politik à la Donald Trump
Ein Lungenarzt hat die Feinstaubdebatte auf den Kopf gestellt und wurde vom Verkehrsminister gefeiert. Aber: Der Doktor hat sich verrechnet. Ein Kommentar.
Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Oder? Nein, umgekehrt. Diesmal muss man erst lachen und danach wird man traurig. Worum es geht: Die Riesenaufregung, die der pensionierte Lungenarzt Dieter Köhler ausgelöst hat, als er Ende Januar ein von 112 Kollegen – darunter 107 Lungenärzte - mit unterzeichnetes Papier veröffentlichte, in dem die bisher geltenden Feinstaubgrenzwerte angezweifelt wurden, beruht auf einem krassen Rechenfehler. Von Köhler.
Die Berliner "taz" hat sich die Mühe gemacht, die Zahlen, die Köhler damals präsentierte und nach denen jeder Raucher in wenigen Monaten mehr Stickoxide einatme, als jemand, der 80 Jahre lang an einer stark befahrenen Straße wohne, nachzurechnen oder nachrechnen zu lassen. dabei kam heraus, dass im Grunde gar nichts stimmt an dem Papier. Köhlers fabelhafte Reaktion auf die „taz“-Recherchen waren ein Lob auf das Engagement des Reporters und die Klage darüber, dass er als Pensionär alles allein machen müsse, nicht mal eine Sekretärin habe er noch.
Soweit der lustige Teil der Geschichte. Jetzt der traurige. Ein schlampig recherchiertes Papier vermag es, eine Grenzwertdiskussion in Gang zu setzen, die bis in die Regierung hinein Folgen haben soll. Der Verkehrsminister – Andreas Scheuer von der CSU – war nur zu gern bereit, dem Papier den Vorzug vor sämtlichen Studien und wissenschaftlicher Evidenz zu geben. Er hatte sogleich eine Überprüfung der Grenzwerte gefordert und war damit auch nach Brüssel gezogen, von wo aus am Mittwoch gerade erst das Signal kam, dass ein Verzicht auf Fahrverbote auch bei Überschreitung der Grenzwerte möglich sei.
Ein Stück Trumps Amerika in Berlin
Dass die Studie so einschlagen konnte, liegt daran, dass das Thema weniger politisch ist als ideologisch. Überschrittene Grenzwerte führen derzeit in Serie zu Fahrverboten auf besonders belasteten Straßen – und Fahrverbote kommen in der Sicht mancher einer Kastration der deutschen Autofahrer gleich. Der zuständige Minister Scheuer versteht sich recht ungeniert als Vertreter der „Freie Fahrt für freie Bürger“-Lobby und konnte sich über Studie gar nicht genug freuen. In seiner Weltsicht ist – wie sich später in der Tempolimit-Debatte nochmal herausstellte – eine Begrenzung des Autoverkehrs mit gesundem Menschenverstand ohnehin nicht vereinbar.
Dass auch die Medien die Aufregung um das Papier mitmachten – von der „Bild“-Zeitung getrieben, ging die Nachricht durch alle Blätter, auch der Tagesspiegel stieg ein, Dieter Köhler saß in Talkshows – ist kein Ruhmesblatt. Aber auch nicht gleich eine Schande. Dass man es besser machen kann, beweist jetzt die „taz“. Aber als die Nachricht rauskam, konnten sich auch die Berichterstatter zunächst dadurch bestätigt fühlen, dass das Bundesverkehrsministerium offenbar ernsthaft auf das Papier einging.
Ein Teil der Frage nach der Ernsthaftigkeit der Debatte lautet also auch: Warum macht so ein Papier in einem Ministerium, das voller Fachleute und Experten sitzt, eine derartige Welle? Es gibt darauf nur Antworten, die niemanden zufriedenstellen können: Entweder sind die Experten und Fachleute eben doch keine - oder in einem Ministerium steht über dem Fachwissen die Ideologie des jeweiligen Ministers.
Das wäre dann ein Stück Trumps Amerika in Berlin. Und es wäre sicher nichts, was irgendjemand gutheißen möchte. Vermutlich nicht mal diejenigen, die mit ihren Dieselautos durch die belasteten Straßen fahren wollen.
Ariane Bemmer