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Das Konterfei des türkischen Staatschefs Erdogan auf dem Schal einer Anhängerin in Berlin
© dpa/Paul Zinken

Gespaltene Gesellschaft: Gräben zwischen Deutschen und Deutschtürken werden tiefer

Die Fremdheit zwischen Teilen der Bevölkerung in Deutschland wächst. Das ist besorgniserregend - und bedrohlich für alle. Eine Analyse.

Wo Brücken gebaut werden, gibt es Gräben. Auch der Begriff „Deutschtürken“ schlägt eine Brücke und weist auf einen Graben hin – zwischen Deutschen und Türken, zwischen Bürgern mit Wurzeln in Ingolstadt und Bürgern mit Wurzeln in Istanbul. Seit einiger Zeit wird der Graben breiter.

In Deutschland leben etwa drei Millionen Deutschtürken. Doch immer weniger fühlen sich hier richtig zuhause. Nur noch wenige beantragen einen deutschen Pass, und über die Hälfte beklagte kürzlich in einer Umfrage des Religionssoziologen Detlef Pollack, sie seien hier nicht anerkannt und nicht willkommen.

Auch der Graben zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen wird tiefer

Das hängt eng mit einem zweiten Graben zusammen: dem zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen. Zwei Drittel der Deutschtürken denken, der Islam passe in die westliche Welt, während 73 Prozent der Gesamtbevölkerung vom Gegenteil überzeugt sind. Die Mehrheit der Deutschtürken verbindet mit dem Islam positive Eigenschaften wie Solidarität und Toleranz – die Mehrheit der anderen traut dem Islam alles Böse zu.

Dazu kommen Risse innerhalb der türkischstämmigen Gemeinschaft. Linke Kemalisten hatten sich mit frommen AKP-Sympathisanten noch nie viel zu sagen. Seit dem Putschversuch in der Türkei verwandelt sich die Sprachlosigkeit auch in Hass zwischen Erdogan-Freunden und Erdogan-Feinden.

Diese wachsende Fremdheit zwischen Teilen der Bevölkerung ist besorgniserregend und geht alle etwas an. Denn wo Fremdheit wächst, schwindet der Zusammenhalt der Gesellschaft, und die Gefahr von Gewaltausbrüchen steigt.

Die meisten Ursachen sind hausgemacht

Manche Gründe für die Fliehkräfte liegen in der Türkei, die meisten Ursachen sind hausgemacht und haben viel mit Ausgrenzungserfahrungen zu tun. Wer mal mit einer Freundin mit türkischem Namen eine Wohnung gesucht hat, weiß, wie hartnäckig die Vorurteile sind. Dazu kommt, dass der soziale Aufstieg der türkischstämmigen Söhne, Töchter und Enkel zwar voran geht, aber nicht so schnell wie erhofft. Schuld daran sind Mehrheit wie Minderheit. Das führt zu Trotzreaktionen auf beiden Seiten.

Die Situation ist vertrackt. Denn die zunehmenden Fremdheitsgefühle verstärken sich auch noch gegenseitig: Immer weniger Türkeistämmige fühlen sich als Deutsche, umso leichter fällt es dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Community zu spalten. Interventionen der Politik, Pädagogisierungen und erzwungene Loyalitätsbekundungen zu Deutschland bringen nichts. Das hat die Armenien-Resolution des Bundestags gezeigt. Erdogans Freunde und Feinde waren sich in der Ablehnung zwar kurzzeitig so einig wie nie – doch die Kluft zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit ist gerade dadurch weiter gewachsen. Wie entkommt man dem Teufelskreis?

Reden, reden, reden

Vielleicht am ehesten durch das, was die Deutschen am besten können und was jetzt in der Türkei unterdrückt wird: reden, reden, reden. Die Konflikte in Talkshows bringen und aushalten, dass sich Kontrahenten schnell rhetorisch an die Gurgel gehen. Versuchen zu verstehen und differenzieren, statt pauschal zu verurteilen. Vertrauen aufbauen, wo so viel von Misstrauen durchzogen ist. Für die Scharfmacher auf allen Seiten klingt das naiv und hilflos. Doch mit markigen Ansagen baut man keine Brücken. Schon oft sind die Maulhelden in die Gräben gestürzt, die sie für andere gegraben haben.

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