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Der ehemalige Kremlchef Michail Gorbatschow 2014 am Pariser Platz.
© picture alliance / dpa

30 Jahre Perestroika-Manifest: Gorbatschows Betriebsanleitung für eine bessere Welt

Am 1. November 1987 erschien das Perestroika-Manifest von Michail Gorbatschow. Darin beschrieb er seine Vorstellung von einer Welt ohne Kalten Krieg.

Er wollte eine andere Welt, eine Welt ohne den Kalten Krieg. Das politische Programm dafür stellte Michail Gorbatschow vor genau 30 Jahren, am 1. November 1987 vor – in einem Buch mit dem sperrigen russischen Titel „Perestroika und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt“. Knapp 300 Seiten, Kostenpunkt der Erstausgabe 75 Kopeken: Gorbatschows Manifest sollte eine der wichtigsten politischen Schriften des 20. Jahrhunderts werden. Nur sehr, sehr wenige russische Worte sind in andere Sprachen übernommen worden, Perestroika ist eines davon.

Als Gorbatschow 1985 an die Macht kam, war selbst dogmatischen Funktionären klar, dass die Sowjetunion dringend Reformen brauchte. Ganz anders, als in der sozialistischen Fortschrittstheorie vorgesehen, hatte sie die wichtigsten Entwicklungen der wissenschaftlich-technischen Revolution verpasst. Der wirtschaftliche und technologische Rückstand zum Westen wuchs stetig. Der Afghanistan-Krieg zehrte an den inneren Ressourcen und beschädigte das internationale Ansehen des Landes. Zudem hatte US-Präsident Ronald Reagan mit seinem Sternenkriegsprogramm SDI gerade eine neue Runde des Wettrüstens eingeleitet, das die Kapazitäten der maroden UdSSR überforderte.

Purer Selbsterhaltungstrieb

Es war nicht der Glaube an die Sieghaftigkeit des Sozialismus, sondern purer Selbsterhaltungstrieb, der die Führung in Moskau Mitte der 80er Jahre zum Umdenken zwang. Gorbatschow, der allein schon mit seinem frischen, scheinbar unverstellten Auftreten den Unterschied zu seinen Vorgängern machte, wurde zum wichtigsten Protagonisten des Wandels.

Schon bald nach der Machtübernahme hatte der neue Mann Eigenschaften präsentiert, die die sowjetischen Menschen bei ihren Führern schon lange nicht mehr gesehen hatten: Gorbatschow ging auf sie zu. Nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz direkt auf den Straßen. Leibhaftig. Mit ausgestreckter Hand. Er konnte frei sprechen, mit sympathischer, dunkler Stimme und einer weichen südrussischen Färbung. Er hatte ungewöhnliche, ja unerhörte Ideen. Es geschah etwas Unvorstellbares: Die Sowjetbürger hörten einem Generalsekretär wieder zu, sie lasen freiwillig seine Reden nach. Sie gaben Gorbatschow, was sie schon lange keinem Parteifunktionär mehr gegeben hatten: einen Vertrauensvorschuss.

Glasnost, die Politik der Öffnung und Offenheit, war keine hohle Phrase. Plötzlich wurde die fatale Stagnation, in die sich die Sowjetunion unter ihrer gerontokratischen Führung von Breschnew über Andropow bis zu Tschernenko manövriert hatte, sachkundig analysiert. Vieles wurde auch weiter verschwiegen, aber ein Anfang war gemacht. Zudem öffneten sich die Archive und die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus begann von Neuem. Außenpolitisch änderte sich die Tonlage. In Genf 1985 und im Herbst 1986 in Reykjavik trafen sich Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan, um über nukleare Abrüstung zu reden. In der isländischen Hauptstadt scheiterte eine Vereinbarung denkbar knapp.

Die Putschisten erreichten ihr Hauptziel

Dann, im Herbst 1987, zog sich Gorbatschow zwei Monate zurück, um auf Bitten eines US-Verlages die Grundlagen seiner Politik niederzuschreiben. Rechtzeitig zu den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution erschien das Buch. Das Datum war kein Zufall, denn darin bestand das Selbstverständnis Gorbatschows: Er sah sich als legitimen Erben des Revolutionsführers Lenin. Gorbatschows Manifest hatte eine Startauflage von 300.000 Exemplaren. Das Vorwort begann mit den Sätzen: „Ich habe dieses Buch in dem Wunsch geschrieben, mich direkt an die Völker zu wenden. An die Völker der UdSSR, der USA und jedes beliebigen Landes.“

Die Erinnerung an Gorbatschows Perestroika-Buch ist jedoch unvollständig ohne die Erwähnung des Gegen-Manifestes. Auf die größten Widerstände stieß Gorbatschow nämlich im eigenen Land. Nur ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1988, erschien in der Zeitung „Sowjetskaja Rossija“ auf einer ganzen Seite der Artikel einer gewissen Nina Andrejewa. Sie könne „von ihren Prinzipien nicht lassen“, schrieb die Chemikerin aus der Provinz. Was folgt ist ein flammendes Bekenntnis zur orthodoxen kommunistischen Ideologie. Nina Andrejewa war das Sprachrohr einer Gruppe, die unmittelbar neben Gorbatschow im Zentrum der Macht agierte. 1988 wagte sie es noch nicht, aus der Kulisse auf die politische Bühne zu treten. Im Sommer 1991 war es so weit: Diejenigen, die von ihren Prinzipien nicht lassen mochten, putschten gegen Gorbatschow.

Trotz ihres Scheiterns erreichten die Putschisten doch ihr Hauptziel: Die Perestroika war zu Ende.

Michail Gorbatschow war bereits mehr als zwei Jahre an der Macht, als sein Buch erschien. In Deutschland bekam es den Titel „Perestroika. Die zweite russische Revolution“.

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