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Ein EU-Ballon an der Churchill-Statue in Westminster.
© AFP

Großbritannien und der Brexit: Gleichgültig in Europa

Das Votum für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU hat viele Gründe - einer davon reicht weit in die europäische Geschichte zurück.

Young Winston ist jetzt erst einmal wieder von der Bühne verschwunden. Zwar hat Boris Johnson aus dem auch nicht sonderlich geraden Lebenslauf seines großen Helden Churchill gelernt, dass die Karriere eines unabhängigen, eigenwilligen und schillernden Geistes mehr Auf und Ab vertragen muss. Aber wie es aussieht, hat er sein großes Ding vermasselt, es gibt keine „finest hour“ für den blonden Mann, er wird wohl nicht in die Geschichte eingehen als derjenige, der Großbritannien vor europäischen Querelen gerettet hat. Sondern, wenn es dumm läuft, als derjenige, der Europa in schlimmere Zeiten lotste. Nicht alleine, aber er brachte mit seinem drolligen Teddybären-Auftritt Schwung und höhere Sympathiewerte in die Brexit-Kampagne. Wenn der Austritt die Europäische Union härter trifft, wenn das Ausscheiden Großbritanniens Nachahmer findet, wenn der Kontinent wieder auseinanderfällt, nicht morgen, nicht in diesem Jahrzehnt, aber in überschaubarer Zeit, dann kann Young Winston darüber sinnieren, ob er nicht eher Neville Chamberlain nahekommt.

Mehr Chamberlain als Churchill

Chamberlain war der Premier, der in den 30er Jahren eine unglückliche, weil ungerade Europa-Politik verfolgte, die Hitler in seinen Expansions- und Kriegsplänen nicht stoppte. München 1938 – aus europäischer Sicht ein Datum, das für britische Leichtfüßigkeit im Verhältnis zum Kontinent steht. Großbritannien allein hätte den Zweiten Weltkrieg natürlich nicht verhindert. Doch steht der unglückliche konservative Premier für eine Tradition der Briten im Verhältnis zum Kontinent, die das Abseitsstehen, das Nicht-Intervenieren und das Rosinenpicken für den Kern britischer Europapolitik hält. Nur wenige britische Staatsmänner der modernen Zeit haben sich als Europäer gefühlt mit der Aufgabe, in Europa auch Führungsverantwortung zu übernehmen. (Der alte Winston, muss man hier vielleicht anmerken, war einer jener Europakundigen; sein Beharren auf der eigenen Rolle der Insel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er diese Rolle stets im Konzert mit dem Kontinent begriff und nicht als Abkehr - zu seiner Zeit war das Empire noch nicht abgewickelt. Man darf Zweifel haben, ob Churchill in der Abwägung Johnsons Weg gutgeheißen hätte, aber das ist Spekulation.) Das Konzept der „balance of power“, welche das frühe europäische Staatensystem, lange vor der EU, geprägt hat, bedeutete aus Londoner Sicht oft nur, dass man die anderen balancierte oder sich balancieren ließ. Was dann einige Male schiefging.

Vor 150 Jahren weggeschaut

Das bringt einen – zugegeben: ein etwas weiter Sprung – zum Jahrestag der Schlacht von Königgrätz im Deutschen Krieg am 3. Juli 1866, vor genau 150 Jahren. Es siegte Preußen über Österreich und seine süd- und mitteldeutschen Alliierten, die den Deutschen Bund erhalten und das von Preußen dominierte kleindeutsche Reich verhindern wollten. Die Balance in Europa war damit dahin. Das von Preußen dominierte Deutschland wurde zu einem immer weniger berechenbaren Faktor. Man kann die Somme-Schlacht vor hundert Jahren durchaus als Folge von 1866 deuten. In London hatte man dem Treiben auf dem Kontinent damals eher tatenlos zugeschaut. Der amerikanische Historiker Paul W. Schroeder hat diese Gleichgültigkeit beim Ableben des Deutschen Bundes mit „der Duldung zum Abholzen eines Waldes ohne Rücksicht auf die ökologischen Folgen“ verglichen, „in der Annahme, die Natur werde sich um das Problem kümmern“. Es sei „jene Art von Gleichgültigkeit gegenüber der Ökologie internationaler Systeme, für die langfristig gewöhnlich alle zahlen müssen“. Hinter dem Brexit-Votum stecken viele Motive – insulare Gleichgültigkeit gegenüber Europa aber gehört dazu.

Der Deutsche Bund übrigens galt zu seinem Ende hin als Auslaufmodell, als Wrack, als Pfuschwerk. So deuten manche heute auch die EU, gerade in London. Die Historiker urteilen längst anders über den Deutschen Bund.

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