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Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel.
© Eric Vidal/Reuters

EU: Gipfel der Widersprüche

Merkel will an einer europäischen Quotenregelung bei der Aufnahme von Flüchtlingen festhalten – doch Polen und Ungarn bleiben beim EU-Gipfel bei ihrer Ablehnung.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag zum Auftakt des EU-Gipfels vor die Journalisten trat, da war ihre Kritik an EU-Ratschef Donald Tusk denkbar deutlich. „Eine selektive Solidarität kann es nach meiner Auffassung unter europäischen Mitgliedstaaten nicht geben“, sagte sie. Zuvor hatte der Gipfelgastgeber Tusk in einem Anhang zu seinem Einladungsschreiben nach Brüssel erklärt, dass sich die Regelung zur Umverteilung der Flüchtlinge in der EU als „hochgradig spaltend“ erwiesen habe. Mit anderen Worten: Polens Ex-Regierungschef schlug vor, dass sich die Europäer von einer verbindlichen Quotenregelung bei der Aufnahme der Flüchtlinge in Zukunft verabschieden. Doch Merkel ist da anderer Meinung.

Tsipras findet Tusks Kritik "fehl am Platz"

Dass die Kanzlerin mit ihrer Kritik an Tusks Vorstoß nicht allein steht, wurde bereits zum Auftakt des Gipfels deutlich. Der griechische Regierungschef Alexis Tsipras sagte in einem Interview mit dem staatlichen griechischen Fernsehen, der Vorschlag Tusks sei „fehl am Platz und sinnlos“. Griechenland gehört wie Italien zu den Ländern, die im Zuge einer Überarbeitung des EU-Asylsystems in Notsituationen entlastet werden sollen.

In dieselbe Kerbe wie Tsipras hieb auch der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte. „Wir brauchen Solidarität“, erklärte er in Brüssel. Er unterstütze den Kompromissvorschlag des estnischen EU-Vorsitzes, fügte der Niederländer hinzu. Der Vorschlag Estlands beinhaltet mehrere Elemente: die Verstärkung der EU-Außengrenzen, die freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen durch einzelne Mitgliedstaaten und ein verpflichtendes Quotensystem im Fall von Flüchtlingskrisen wie in den Jahren 2015 und 2016. Allerdings zeichnet sich unter den EU-Mitgliedstaaten, die bis Juni 2018 eine Einigung über das neue EU-Asylsystem finden wollen, weiterhin kein Konsens ab. Jetzt muss Bulgarien, das ab dem Beginn des kommenden Jahres den EU-Ratsvorsitz übernimmt, versuchen, einen Kompromiss hinzubekommen.

Asselborn: Wahl zwischen dem "Europa von Orban" und dem "Europa der Solidarität"

Auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn wies die Kritik des EU-Ratschefs Tusk an verbindlichen Quoten zur Verteilung von Flüchtlingen in der EU zurück. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass nur eine Handvoll Länder den Ton angeben in einer der wichtigsten Fragen, mit denen Europa konfrontiert wird, nämlich der Migration“, sagte Asselborn dem Tagesspiegel. Es stelle sich die Frage, ob man „ein Europa von Orban“ oder „ein Europa der Solidarität und Verantwortung“ wolle, sagte Asselborn weiter mit Blick auf die Weigerung des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban, die Vorgaben der Europäischen Union in der Flüchtlingspolitik zu erfüllen.

Ungarn und Polen waren es auch, die auf den Vorstoß Tusks positiv reagierten. So zeigte sich Ungarns Außenminister Peter Szijjarto angesichts des Tusk-Papiers erfreut darüber, „dass endlich eine europäische Führungspersönlichkeit, noch dazu der Ratspräsident, die Wahrheit ausspricht, die jeder kennt“. Polen, Ungarn und Tschechien werden derzeit von der EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagt, weil sie einen Beschluss der EU-Innenminister zur verbindlichen Aufnahme von Flüchtlingen nicht umsetzen.

Erhebliche Unterschiede zwischen den EU-Ländern in der Asylpraxis

Wenn es die europäische Solidarität in der Flüchtlingspolitik geht, dann kommt eine Studie zur Aufnahme und Anerkennung von Asylbewerbern, die der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) veröffentlicht hat, zu einer düsteren Prognose. Trotz 20-jähriger Bemühungen um eine gemeinsame Asylpolitik sei davon „bislang nur wenig zu spüren“, heißt es in der Studie, die im Auftrag der schwedischen offiziellen Migrationsforschungsstelle Delmi entstand. So erkennen Großbritannien und Ungarn weniger als 13 Prozent der irakischen Schutzsuchenden an, Spanien und die Slowakei aber alle.

Auch Frankreich bleibt unter seinen Möglichkeiten

Auch die tatsächlichen Aufnahmezahlen wichen zwischen 2008 bis 2016 extrem voneinander ab. So ließ Schweden bis 2015 regelmäßig die drei- bis vierfache Zahl von Flüchtlingen ins Land, die es hätte beherbergen müssen, wenn man die Wirtschaftskraft und die Bevölkerungszahl des skandinavischen Landes zugrunde legt. Deutschland blieb bis 2010 unter seinem Anteil, ging aber 2015 und 2016 doppelt und dreifach darüber hinaus. Frankreich und Großbritannien unterschreiten ihren Anteil seit Jahren. Das Vereinigte Königreich lag 2016 etwa 80 Prozent unter seinem Anteil, Frankreich um die Hälfte.

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