Rechtextremismus: Gibt es ein weiteres Opfer des Neonazi-Trios?
Vor zwei Wochen wurde der Besitzer des Bistros Aladin in Döbeln erschossen. Nun fragt sich eine ganze Stadt, ob auch sie von dem Killertrio heimgesucht wurde, über das Deutschland spricht.
Nun ist der Terror auch nach Döbeln gekommen. Dort steht eine Seniorin vor dem Bistro Aladin, sie stößt fast mit der Nase an die Scheibe. Dann sagt sie: "Schlimm ist das. Schlimm, dass das jetzt auch bei uns passiert." Das schöne Döbeln an der Freiberger Mulde, 21 000 Einwohner, auf halbem Wege zwischen Leipzig und Dresden. Rudolf-Breitscheid-Straße, im Stadtzentrum. Durchs Fenster des Kebabladens sieht man noch die Reste von Salat und Tomaten. Vertrocknete Gurken gammeln in Schüsseln aus Blech. Auf Spießen kleben noch Lammfleisch und Hühnchen. Das sind die Zutaten für einen Döner. Seit zwei Wochen schon gibt es im Aladin keinen Döner mehr, seither ist die Tür des Bistros versiegelt von der Polizei. Überall an der Fassade pappen kleine Zahlen, sie markieren winzige Spuren. Es sind die Spuren eines Mordes.
Die Tat geschah am 1. November, einem Dienstagabend, kurz nach 20 Uhr. Ein Maskierter betrat das Aladin. Die Geschäfte ringsum waren längst schon geschlossen, die Straße muss leer gewesen sein. Wohl keine Besucher im Bistro. Jamal Al M., heißt es, der 41-jährige Besitzer des Lokals, habe an einem der Spielautomaten gestanden. Es sei auch noch eine Angestellte im Haus gewesen. Der Täter habe kein einziges Wort gesagt. Stattdessen gleich abgedrückt. Viermal. Es war eine Hinrichtung. Al M., geboren im Libanon, soll sofort tot gewesen sein. Die Angestellte blieb körperlich unverletzt.
Es liegen jetzt Blumen für den Imbissbesitzer auf dem Gehweg, es brennen Kerzen zu seinem Gedenken. In einem Brief steht die Frage: Warum? Darunter prangen Raffaels Engelchen. Zehn lange Tage musste die Stadt Döbeln sich fragen, ob sie sich schämen sollte für diesen Mord. Ob hier Neonazis kaltblütig Ausländer ermorden, mitten in der City. Ob man eine gefährliche Stadt ist für Fremde. Dann sprach plötzlich das ganze Land über die bundesweite Mord-Serie eines Rechtsextremisten-Trios, und Döbeln war mittendrin; und es war fast eine Erleichterung für die Menschen hier. Jamal Al M. starb drei Tage bevor Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die Neonazis der "Zwickauer Zelle", Selbstmord in ihrem Wohnmobil begingen. Und Beate Z., deren Komplizin, die gemeinsame Zwickauer Wohnung in die Luft sprengte. Jamal Al M. starb zehn Tage bevor die Polizei in den Zwickauer Trümmern die Tatwaffe der sogenannten Döner-Morde fand, zudem Bekenner-DVDs.
Beate Z., Mundlos, Böhnhardt: Sie sind mit großer Wahrscheinlichkeit verantwortlich für neun Morde an Ladenbesitzern mit ausländischen Wurzeln in ganz Deutschland. Das erscheint so klar, so schlüssig, so erwiesen in diesen Tagen. Warum also nicht zehn? Warum soll nicht der Mord von Döbeln auch noch aufs Konto des Trios gehen? "Wir prüfen die Verbindung", sagt eine Polizeisprecherin. Die Soko Aladin, bestehend aus 50 Beamten der Polizeidirektion Westsachsen, arbeitet jetzt im Döbelner Revier. Spekulationen jedoch sind schneller als jeder Ermittler. Von Zwickau nach Döbeln fährt man nur eine Stunde. Und liefen nicht genau so alle anderen Morde ab: Maskierte Täter überfallen Migranten in ihrem Ladenlokal? Hinrichtungen mit der Pistole, Schüsse aus nächster Nähe? Ein Mann, scheinbar zufällig zum Tode erwählt – und doch so bewusst getötet? War Döbeln der finale Mord der Rechtsterroristen, der schaurige Schlussakt, drei Tage vorm Suizid? "Ja, ja", sagt jene Seniorin, die vor dem Bistro steht, "ich glaube schon."
Lesen Sie weiter auf Seite 2, welches Motiv die Täter gehabt haben könnten.
Eher noch war es aber ganz anders. Der bislang letzte Mord, den man der Zwickauer Gruppe zuschreibt, ereignete sich am 6. April 2006, in einem Kasseler Internetcafé. Fünfeinhalb Jahre sind seitdem vergangen. Folgte ausgerechnet jetzt der nächste Mord? "Es spricht derzeit nichts dafür", lässt die Staatsanwaltschaft wissen. "Es gibt keinerlei Anhaltspunkte", verlautet aus Ermittlerkreisen. Keine Spuren, die in diese Richtung deuten.
Die Tatwaffe soll im Fall Döbeln eine andere gewesen sein als jene Česká, mit der das Trio aus Zwickau so oft mordete. Es wurde inzwischen sogar eine Waffe gefunden, von Tauchern gehoben aus dem Wasser der Mulde. War sie es, durch die Jamal Al M. starb? Das Ergebnis der ballistischen Untersuchung soll wahrscheinlich am Ende dieser Woche feststehen. Man wird dann mehr wissen.
Aber keineswegs ist gesagt, dass die Waffe auch zu dem Täter führt. Wenn nicht Böhnhardt, Mundlos und ihre Kumpanin den Libanesen ermordeten. Wer dann? War es ein Neonazi aus dem Ort? Ein Krimineller aus der Fremde? In Döbeln können sich viele Leute inzwischen vieles vorstellen.
"Wir haben Angst", sagt ein Freund des Getöteten, »wir haben große Angst. Wer ist der Nächste?" Solche Fragen stelle er sich. Kann man in Döbeln noch bleiben? Dann spricht der Mann nicht mehr. Er habe keine Zeit, sagt er traurig. Wer war der Täter, das ist die Frage. Kerstin Saupe, die Stadt-Vorsitzende der Linkspartei, hat eine Ahnung. Denn sie war fast dabei.
Hundert Meter vom Bistro Aladin entfernt hat die Linke ihre Geschäftsstelle. Saupe, 43, Kindergärtnerin von Beruf, hielt sich am Tatabend in der Parteizentrale auf. "Bis 20 Uhr", sagt sie. Ausnahmsweise habe sie ihr Auto einmal rechts vom Ausgang geparkt. "Sonst", sagt sie, "stehe ich immer links. Am Bistro."
Sie sei abends zum Auto gelaufen und heimgefahren. Das sei ihre Rettung gewesen. "Solche Täter haben Zeugen ja immer nicht so gerne", sagt Saupe. Sie glaubt an eine Art Auftragsmord, dessen Opfer Jamal Al M. geworden sei. "Mir ist zu Ohren gekommen", erzählt sie, "dass er schon seit einigen Tagen in seinem Laden geschlafen hat. Um die Familie zu schützen."
Solche Geschichten erzählt man sich jetzt gerne in Döbeln. Weil Jamal Al M. auch noch einen Kfz-Verkauf besaß, den Autohandel Daniel, draußen am Stadtrand, angeblich benannt nach seinem Sohn. Ein maroder, alter Hof. "Ankauf aller Gebrauchtwagen und Unfall" steht da. Die Firma soll vor allem Autos nach Osteuropa geliefert haben. Angeblich, berichtet die Lokalzeitung, habe der Chef vor einem Jahr mal zwei Rumänen angezeigt, die ihn mit Falschgeld bezahlen wollten. Bei der Staatsanwaltschaft heißt es, davon wisse man nichts.
Wäre die Falschgeld-Geschichte ein mögliches Motiv? Waren es doch Täter aus dem Ausland? Vielleicht. Bei den früheren Morden hat man das ja auch in Betracht gezogen. Nur: Da war die Spur, das weiß man jetzt, nachweislich falsch.
Es ist alles so verwirrend in Döbeln, so unklar. Da gibt es eine Mordserie an Dönerverkäufern, und in Döbeln stirbt ein Dönerverkäufer. Die Serie wird aufgeklärt. Der Mord in Döbeln nicht. Ausgerechnet die Linkspartei glaubt nicht an einen Nazimord. Und ein Mann, über den niemand Schlechtes erzählen kann, soll Opfer der Mafia oder ominöser Rumänen geworden sein. Hat irgendwer noch Antworten?
Ein Anruf also bei Hans-Joachim Egerer, Döbelns Oberbürgermeister. Ein Treffen hat er abgelehnt. Ans Telefon geht er nur widerwillig. "Man hört in Döbeln nie was von Rechtsextremismus. Hier ist Ruhe", sagt er. Dann legt er wieder auf.
Da weiß man, was er wohl am meisten fürchtet: dass hier ein Döbelner Neonazi gemordet hat. Das würde die Stadt zwingen, über Rechtsextremismus nachzudenken. Und über die nächste Frage dieses Falles: Wie schlimm ist es mit dem Rechtsextremismus denn mittlerweile geworden?
Man muss vielleicht Stefan Brauneis fragen, der einen roten Kapuzenpullover trägt und für die Demokratie in Döbeln kämpft. Er ist Vorsitzender eines Vereins namens Treibhaus, sachsenweit bekannt für langen Atem im Schulhofkampf gegen Neonazis. Döbelns NPD bezichtigt das Treibhaus der "geistigen Umweltverschmutzung«, der Erziehung Jugendlicher zum »nationalen Selbsthass", sie arbeitet sich wütend ab an Brauneis’ Verein. Welches Lob.
Brauneis erzählt von der Kameradschaft seiner Stadt, die sich Nationale Sozialisten Döbeln nennt. "Gut vernetzt in der sächsischen Neonazi-Szene", sagt er, "mit einem harten Kern von sieben, acht Leuten. Dazu bestimmt 30 Sympathisanten." Er ist von den Neonazis der Region Brandanschläge gewohnt, auch Körperverletzungen. Brutalität, schlimmste Tiraden. Hier agiert eine Gruppe voller Hass.
Einerseits sagt Brauneis deshalb: Er habe an die Nationalen Sozialisten gedacht, als er vom Mord am Dönerverkäufer hörte. Gleich der zweite Gedanke sei dann jedoch gewesen: "Ganz ehrlich, das traue ich nicht einmal denen zu." Nichts ist einfach in diesem Döbelner Fall.
Der nächste Tag. Inzwischen erklärt die Staatsanwaltschaft, es sei überaus unwahrscheinlich geworden, dass das Trio aus Zwickau auch in Döbeln gemordet hat. "Es spricht nichts dafür", heißt es nun. Eine heiße Spur fehle weiterhin. Beim ersten "Dönermord", damals tief in Bayern, ging das zehn Jahre so.
(Text erschien bei Zeit-Online)