Brexit vor dem Obersten Gericht: Gerät der Zeitplan von Theresa May durcheinander?
Die Obersten Richter Großbritanniens beraten darüber, ob das Parlament mehr Mitsprache beim Brexit haben soll. Das könnte ein Problem für die Premierministerin werden.
Nächste Runde im Brexit-Drama: Am Montag hat die Anhörung im Revisionsverfahren vor dem Höchsten Gericht Großbritanniens zur Frage begonnen, ob die Regierung von Premierministerin Theresa May für den EU-Austrittantrag die ausdrückliche Zustimmung des Parlaments braucht. Eine Vorinstanz hatte auf einige Klagen hin Anfang November entschieden, dass der Antrag nach Artikel 50 des EU-Vertrags nicht ohne vorheriges Votum der Volksvertreter gestellt werden darf. Das würde bedeuten, dass auch ein parlamentarisches Verfahren stattfindet. May könnte dann unter Druck geraten, ihre Pläne deutlicher zu erklären als bisher.
In der konservativen Regierung glaubt man jedoch, eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber den EU-Staaten und der EU-Kommission zu haben, wenn man seine Vorstellungen und Ziele nicht allzu deutlich formuliert. May will, verständlicherweise, möglichst beweglich und ungebunden verhandeln können. Den Antrag hat sie für März in Aussicht gestellt, doch könnte ein Urteil des Supreme Court das Datum hinausschieben. Das Gerichtsverfahren sorgt auf der Insel für viel Aufregung. Gerichtspräsident David Neuberger sagte zu Beginn der im Fernsehen übertragenen Verhandlungen, Verfahrensbeteiligte hätten Gewaltdrohungen erhalten.
Ob die elf Obersten Richter dem vorangegangenen High-Court-Urteil folgen, ist ungewiss. Nach den Anhörungen bis Donnerstag wird es wohl erst im Januar ein Urteil geben. Den Brexit stoppen wird die Entscheidung jedoch in keinem Fall – die Konservativen haben sich ebenso darauf festgelegt wie die Labour-Opposition. Allerdings kann eine intensive parlamentarische Beteiligung die Art und Weise des Austritts beeinflussen, also für die Frage mitentscheidend sein, ob es einen harten Schnitt im Verhältnis zur EU geben wird oder eine (zumindest für den Übergang) eher weiche Lösung, in der Großbritannien weiterhin wirtschaftlich eng an die Union angebunden bleibt. Letzteres dürfte das Ziel Mays sein, und es ist das erklärte Anliegen der Labour-Opposition.
Austritts-Kritiker sind neben der schottischen Nationalpartei auch die proeuropäisch aufgestellten Liberaldemokraten. Sie gewannen in der vorigen Woche die als kleines Brexit-Referendum inszenierte Nachwahl in Richmond westlich von London - ein Signal, dass zumindest in wohlhabenderen englischen Wahlkreisen die Stimmung deutlich einer weichen Lösung zuneigt, für die sich die Liberal Democrats jetzt massiv einsetzen wollen, um bei der nächsten Parlamentswahl stärker zu sein als 2015, als die Partei eingebrochen war.
Zwei Nachwahlen
Wie es in den Regionen aussieht, die sich bei der Volksbefragung im Juni klar gegen die EU ausgesprochen haben, wird man am Donnerstag sehen. Dann steht im Wahlkreis Sleaford in Lincolnshire eine Nachwahl an, und in dieser Gegend ist die Abneigung gegen das politische Europa, vor allem aber gegen die Einwanderung vom Kontinent, besonders ausgeprägt. Mit Rücksicht auf solche Wahlkreise, bislang oft fest in Tory-Hand, will May in den Gesprächen mit der Union unbedingt eines erreichen: eine Kontrolle der Zuwanderung ohne Rücksicht auf die im Binnenmarkt garantierte Freizügigkeit von Personen.
Dass die Regierung May sich nach Monaten interner Positionskämpfe einer gemeinsamen Linie genähert haben könnte, das ließ am Montag der gemeinsame Auftritt von Schatzkanzler Philipp Hammond und Austrittsminister David Davis erkennen. Sie galten bisher als Köpfe konkurrierender Lager innerhalb der Tory-Partei: Hammond will auch künftig eine enge wirtschaftliche Anbindung an die EU, Davis gilt als Brexit-Hardliner.
Nun aber sprachen beide mit Vertretern der britischen Wirtschaft, in der die Befürchtung wächst, dass eine schlecht aufgestellte britische Regierung keinen vernünftigen Deal mit der EU hinbekommt. Gelingt in dem Zweijahreszeitraum für die Austrittsverhandlungen, der mit dem Antragstag beginnt, keine Übergangslösung (eine langfristige Regelung erwartet in der kurzen Zeit ohnehin niemand), dann wäre eine abrupte Trennung die Folge – mit nachteiligen Folgen vor allem für jene Branchen, die Fertigungsketten über ganz Europa hinweg betreiben, aber auch die starke Londoner Finanzbranche, die dann große Teile ihres Geschäfts in die EU verlagern müsste. Die Folge für Großbritannien wäre der Verlust von Arbeitsplätzen und Wirtschaftskraft.
Binnenmarkt und Zollunion
Eine Übergangslösung könnte sich an den Vereinbarungen orientieren, welche Norwegen und die Türkei mit der EU getroffen haben, um möglichst stark vom Binnenmarkt zu profitieren. Norwegen hat freien Zugang und akzeptiert dafür – ohne politisch mitbestimmen zu können – alle Regeln, die in Brüssel vereinbart werden. Darunter ist auch die Freizügigkeit, EU-Staatsangehörige können ohne Weiteres in Norwegen Arbeit aufnehmen.
Zudem zahlt das Land in den EU-Haushalt ein, kann allerdings auch EU-Mittel bekommen. Die Türkei ist als Mitglied der Europäischen Zollunion nicht so eng angebunden, genießt aber Handelsfreiheit bei Gütern (nicht jedoch bei Dienstleistungen). Zudem muss das Land die Zollpolitik der EU akzeptieren, ist also zollpolitisch nicht autonom. In diese Richtung zielt nun offenbar die Londoner Regierung, denn eine Verbindung von Norwegen-Modell plus Zollunion wäre die beste Lösung im Sinne des Verhandlungsmottos von Außenminister Boris Johnson: „to have the cake and eat it“. Frei übersetzt: In beide Enden der Wurst gleichzeitig beißen zu können.
Davis deutete in der Vorwoche an, Großbritannien könne durchaus freiwillige Zahlungen in den EU-Haushalt leisten, wenn es dafür Binnenmarkt-Zugang für Waren und Dienstleistungen bekomme. Dass die Brexit-Hardliner sich nun der Vorstellung öffnen, Großbritannien könne doch mehr EU-Nähe brauchen als bisher zugegeben, könnte einerseits mit der Nachwahl in Richmond zu tun haben - zuvor hatten die Tories den Wahlkreis mit Leichtigkeit gewonnen.
Andererseits kann auch das Wahlergebnis in den USA eine Rolle spielen. Denn der künftige Präsident Donald Trump steht für Protektionismus, während die "Brexiters" ihr Land eigentlich noch stärker für Freihandel öffnen wollen. Wenn da aber der große Bruder in Washington nicht mitmacht, dann werden die kontinentalen Nachbarn vielleicht doch wieder wichtiger.