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Theresa May.
© AFP

Welchen Brexit will Theresa May?: Die Sphinx von Westminster

Harter Brexit oder sanfter Ausstieg: Die Premierministerin gibt bisher keine Antwort. Doch langsam beginnt sich der Nebel in London zu lichten. Peilen die Briten eine Zollunion mit der EU an?

Seit Theresa May Anfang Juli ins Amt kam, scheut die britische Premierministerin klare Worte. Dass Großbritannien aus der EU austreten wird, so wie es 52 Prozent der Abstimmenden im Referendum am 23. Juni wollten, ist zwar als demokratischer Auftrag angenommen. „Brexit heißt Brexit“, lautet seither Mays Mantra – aber niemand weiß, wie man sich in der Downing Street 10 das künftige Verhältnis zu den bisherigen EU-Partnern konkret vorstellt. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon meinte vorige Woche nach einem Gespräch mit May, die Premierministerin sei entweder unwillig oder unfähig, auch die einfachsten Fragen zu beantworten. Die Hamlet-Frage in den Verhandlungen mit der EU, die beginnen, wenn die britische Regierung im kommenden März den Austrittsantrag offiziell stellen wird, lautet: Wird der Brexit „soft“ oder „hard“ sein? Im konservativen Kabinett gelten die bedingungslos Austrittswilligen um Außenminister Boris Johnson, Brexit-Minister David Davis und Handelsminister Liam Fox als Verfechter der harten Loslösung – nicht nur Austritt aus den politischen Strukturen der EU, sondern auch eine klare Trennung in wirtschaftlicher Hinsicht. Dagegen gilt Schatzkanzler Philipp Hammond, der immer wieder vor ökonomischen und finanziellen Nachteilen der harten Linie warnt, als prominentester Brexit-Softie.
Doch wohin neigt die Sphinx von Westminster? Einerseits stellte May sich gerade erst hinter Hammond, als die Brexit- Hardliner ihm unterstellten, die Austrittsbemühungen hintertreiben zu wollen. Andererseits glauben viele Beobachter, dass sie sich mit ihrer glühend nationalistischen Parteitagsrede Anfang Oktober ins Lager der Hardliner begeben hat.

Keine Freizügigkeit mehr

May versteht das Brexit-Votum als Signal, der Zuwanderung aus der EU einen Riegel vorzuschieben. Das Ende der vollen Freizügigkeit für EU-Bürger schließt aber eine volle Einbindung in den Binnenmarkt aus. Für May kommen daher zwei „Soft-Lösungen“ nicht in Frage: das norwegische Modell der Binnenmarktanbindung über eine Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum und das Modell der Schweiz, die über Dutzende von Einzelvereinbarungen eingebunden ist. Oslo und Bern haben für den lukrativen Zugang zum Binnenmarkt die Niederlassungsfreiheit von EU-Bürgern in ihren Ländern akzeptiert, übernehmen ohne politische Mitbestimmung einen Großteil der relevanten EU-Gesetzgebung und zahlen beträchtliche Summen in den EU- Haushalt ein. Das lehnen die Brexit-Hardliner ab, und auch den britischen Wählern dürfte das nicht als der gewünschte Austritt zu vermitteln sein. Die harte Lösung sieht dagegen einen bilateralen Freihandelsvertrag mit der EU vor, wie ihn gerade Kanada abgeschlossen hat. Dass solche Abkommen derzeit wenig populär sind, ficht Johnson & Co. nicht an. Die Brexit-Hardliner glauben fest daran, dass die EU Großbritannien als Absatzmarkt brauche, während die Briten weniger abhängig vom Kontinent seien. Diese Vorstellung, dass man gegenüber der EU die besseren Karten habe, bezeichnete der Ex-Präsident der Europäischen Investitionsbank, Sir Brian Unwin, gerade als „Leben im Wolkenkuckucksheim“.

Radikal und blind

Aber die Brexiteers sind blind für die nur begrenzten Möglichkeiten ihres Landes. Der frühere Tory-Parteichef Ian Duncan-Smith sagt freimütig, wenn die EU sich nicht zu einer Verständigung bereitfinde, dann werde man künftig eben Handelsbeziehungen nach den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) haben. Das würde freilich das Ende der Zollfreiheit zwischen der EU und Großbritannien bedeuten. Und das wäre Gift für jene Unternehmen, die in Lieferketten quer durch Europa eingebunden sind – wegen eventueller Zölle, vor allem aber wegen der aufwändigen und teuren Zollbürokratie.
Nicht zuletzt träfe das die Automobilindustrie. Schon früh haben daher deren Manager ihre Interessen angemeldet und durchblicken lassen, ein harter Brexit bedeute, Produktion und Arbeitsplätze in die EU zu verlagern. In Sunderland in Nordengland hat die Renault-Tochter Nissan eine Fabrik, deren Output zu einem großen Teil auf den Kontinent geht. Konzernchef Carlos Ghosn hat sich vor einiger Zeit mit May getroffen. Jetzt wurde bekannt, dass die Regierung in London Nissan schriftliche Zusagen gemacht hat. Der frühere Industrieminister Vince Cable von den Liberaldemokraten vermutet, May habe in Aussicht gestellt, dass Großbritannien in der Europäischen Zollunion bleiben werde. Diese Perspektive spielte in der bisherigen Debatte kaum eine Rolle – doch als Fox im Sommer den Austritt seines Landes aus der Zollunion ankündigte, pfiff ihn May scharf zurück. Der konservative Industrieminister Greg Clark bestätigte Cable indirekt: Man habe Nissan mitgeteilt, die Regierung strebe Zollfreiheit für die Autohersteller an. Freilich werden alle Branchen das wollen, und die EU dürfte sich kaum auf Einzelvereinbarungen einlassen.

Keine Lösung für Hardliner

Gegen die Zollunionslösung werden zudem die Brexit-Hardliner kämpfen, weil damit ihre Vision von der „wahrhaft globalen Handelsnation“ in sich zusammenfällt. London müsste sich in der Zollunion an die Zollvereinbarungen der EU mit Drittstaaten halten – würde also in der Handelspolitik weitgehend aus Brüssel bestimmt. Das Ministerium von Fox, das vor allem bilaterale Handelsverträge vorbereiten soll, wäre damit obsolet. Aber auch in der EU könnte die Idee auf Missfallen stoßen – je nachdem, wie London vorgeht. Teil der Zollunion ist nämlich auch die Türkei, der man durch diese Anbindung vor zwei Jahrzehnten einen ersten Schritt zur Integration in die EU ermöglicht hat. In der Zollunion ist nur der Warenverkehr frei, Dienstleistungen sind ausgeschlossen, ebenso die Freizügigkeit von Personen. Freilich gibt es Bestrebungen, den Vertrag mit der Türkei auf Dienstleistungen auszudehnen. Das könnte auch im Interesse Londons sein, wenn der Finanzsektor darunter fiele. Der befürchtete Wegzug von Firmen aus der Londoner City könnte vermieden werden. Da die EU der Türkei zudem kaum die Freizügigkeit von Bürgern anbieten wird, könnte London argumentieren, dass die EU diese Freizügigkeit von Großbritannien nicht ausdrücklich verlangen könne. Ob die EU-Staaten sich auf solche Spielchen einlassen, ist zwar unklar. Aber jedenfalls lässt sich erklären, warum Johnson unlängst angekündigt hat, Großbritannien werde die EU- Beitrittsbemühungen der Türkei künftig kräftig unterstützen.

"Mittelfristige Aussichten nicht gut"

Aber auch eine Zollunionslösung wird nicht verhindern, dass der Brexit die Wirtschaftskraft des Landes beeinträchtigt. Christian Odendahl, Chefökonom des Londoner Thinktanks Centre for European Reform („pro-europäisch, aber nicht unkritisch“), konstatiert: „Die mittelfristigen Aussichten für Großbritannien sind nicht gut.“ Das unerwartet hohe Wachstum von 0,5 Prozent im ersten Quartal nach dem Brexit-Votum ist für ihn kein gegenteiliger Beleg. Es sei allein von den Dienstleistungen getrieben, während die Baubranche und die produzierende Industrie nichts beigetragen hätten. Vorgezogene Käufe in der Erwartung, dass das stark gefallene Pfund zu höheren Preisen durch teurere Importe führen wird, könnten zu dem Wachstum beigetragen haben. An einen Erfolg der Strategie der Brexit-Hardliner glaubt Odendahl nicht. „Der Austritt aus der EU ist nicht zu kompensieren durch verstärkte Handelsbeziehungen mit anderen Weltteilen.“ Er erwartet, dass Teile der Finanzbranche London verlassen. „Der freie Zugang der Londoner City in die EU ist nicht zu retten.“ Die Finanzfirmen würden das lukrative „Passporting“ verlieren, das EU-Banken erlaubt, in anderen Mitgliedsländern Kunden zu bedienen. Eine Zwischenlösung, nach der sich London bei der Finanzmarktregulierung an EU-Recht halten müsste, dürften die Briten kaum anstreben. Zudem wäre ein solches Regime zu unsicher, so dass vor allem Banken und Finanzinstitute aus Nicht-EU-Ländern „jetzt schnell einen Plan B“ bräuchten. Und der kann laut Odendahl nur heißen, dass in Frankfurt, Paris oder Dublin echte Niederlassungen entstehen, mit eigenem Kapital und einem Mitarbeiterstab. „Denn Briefkastenfirmen wird die EU nicht akzeptieren.“ Der britische Finanzsektor trägt zehn Prozent zur Wirtschaftsleistung bei und ist für die Finanzierung des Staatshaushalts auch angesichts der hohen Einkommen bei Banken und Finanzdienstleistern eine wichtige Säule.

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