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„Wir sind gekommen, um an der Tafel auf der Erde jenen die Stirn zu bieten, die die Schätze dieser Welt unter sich aufteilen“, heißt es auf dem Transparent der Aktivisten.
© Susanne Güsten

Ramadan-Tradition in Istanbul: Gemeinsames Fastenbrechen als Zeichen des Protests

„Iftar“ heißt das tägliche Fastenbrechen im Ramadan. Die Regierung zelebriert es als Ereignis. Kritische Muslime setzen dem die „Tafel auf der Erde“ entgegen.

In einem kleinen Park am asiatischen Ufer des Bosporus in Istanbul legen ein paar junge Leute kurz vor Sonnenuntergang Teppiche und Decken auf dem Gras aus und fügen sie zu einem langen Streifen zusammen. Je tiefer die Sonne über der Skyline am europäischen Ufer sinkt, desto mehr Menschen kommen in den Park: Männer in Arbeitskluft oder im Anzug, Frauen mit Kopftuch oder ohne, Studenten mit Rucksäcken, auch ein paar Kinder sind dabei. Die Ankommenden kauern sich ohne lange Umstände an die Picknicktafel im Gras, packen mitgebrachte Speisen aus und legen sie auf der Decke aus, um sie mit den Umsitzenden zu teilen.

„Iftar“ heißt die Abendmahlzeit, mit der Muslime im Ramadan ihr tägliches Fasten brechen. Traditionell wird diese Mahlzeit mit Familie und Freunden eingenommen, doch in der Türkei wird Iftar seit dem Antritt der islamischen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan oft mit Prunk und Pomp als gesellschaftliches und politisches Ereignis zelebriert.

Gegen diesen Trend protestieren kritische Muslime im Ramadan mit kollektiven Fastenbrechen-Picknicks wie in dem kleinen Park am Bosporus. Ihre sogenannte „Tafel auf der Erde“ setzen sie demonstrativ dem Luxus entgegen, in dem die nominell islamische Regierung bei ihren aufwendigen Empfängen zum Fastenbrechen schwelgt.

Tafel ohne Sitzordnung

Teilen, Toleranz und Bescheidenheit – das sei der wahre Geist des Fastenbrechens im Islam, erzählt einer der Teilnehmer. „In der islamischen Kultur gibt es eigentlich keine Trennung zwischen Arm und Reich, aber diese Tradition ist von der AKP zerstört worden“, sagt er. Doch mittlerweile gebe es Iftar-EmpfIftar-Empfängänge, bei denen ein Gedeck mehr koste, als ein Arbeiter im Monat verdiene. „Davon haben viele Leute die Nase voll und auch von der Polarisierung zwischen frommen und säkularen Türken. Wir setzen uns hier alle zusammen zum Essen, um dem etwas entgegenzusetzen.“

Gemeinsames Fastenbrechen in einem Park im Istanbuler Stadtteil Üsküdar.
Gemeinsames Fastenbrechen in einem Park im Istanbuler Stadtteil Üsküdar.
© Susanne Güsten

Bedri heißt der Mann, er arbeitet bei einer Telekommunikationsfirma und hat als frommer Moslem den ganzen Tag gefastet. Ihm gegenüber sitzt Sibel, eine 56-jährige Übersetzerin von Romanen, die nicht gläubig ist und im Ramadan nicht fastet. Sie fühlt sich dennoch willkommen: „Bei der Tafel auf der Erde kommt es nicht darauf an, ob man fromm ist oder nicht“, sagt Sibel. „Diese Aktion hat sich zu einem Protest gegen alle Ungerechtigkeiten entwickelt, für die der Glaube heute missbraucht wird, und deshalb bin ich hier – um das zu unterstützen.“

Bei der „Tafel auf der Erde“ gibt es keine Sponsoren, keine formellen Einladungen, keine Sitzordnung und kein Eintrittsgeld. Manche bringen Selbstgekochtes mit, andere kaufen Datteln, Gebäck oder Obst im Supermarkt und legen es auf die Picknick-Decken. Alles wird geteilt.

Zehntausende nehmen teil

In der Ferne ertönt der Ruf des Muezzin, das Signal zum Fastenbrechen, und die Gespräche um die Tafel verstummen, während alle zu essen beginnen. Landesweit nehmen nach Schätzung der Initiatoren zehntausende Menschen an solchen Tafeln teil.

Die Protestaktion ist zur Ramadan-Tradition geworden, seit eine Gruppe kritischer Muslime im Jahr 2011 damit begann. „Da haben wir uns vor einem Luxushotel in Istanbul auf den Boden gesetzt, Zeitungspapier ausgebreitet und zum Fastenbrechen ein paar Datteln, Wasser und ein Stück Käse geteilt – so hat das begonnen“, erinnert sich Mitbegründer Ihsan Eliacik, ein islamischer Theologe, der die AKP schon seit Jahren mit seiner Kritik an Kapitalismus und Korruption ärgert.

Richtig Fahrt nahm die Aktion im Jahr 2013 bei den Gezi-Protesten auf, an denen sich auch kritische Muslime wie Eliacik beteiligten. Beim Ramadan in jenem Sommer erschienen zu einer Tafel auf dem Galatasaray-Platz unweit vom Gezi-Park in Istanbul rund 15.000 Menschen – die ganze Fußgängerzone war voll.

Viele Türken fühlten sich vom Konzept der Tafeln angesprochen, sagt Eliacik. „Es mag aussehen wie ein Abendessen, aber eigentlich ist es eine Philosophie, zu der wir einladen. Zum Beispiel muss ein gläubiger Muslim beim Fastenbrechen sein Brot mit einem Atheisten teilen können – das sollte weder dem einen noch dem anderen Unbehagen bereiten.“ Er sieht in der „Tafel auf der Erde“ ein Modell für die Türkei: „Wir zeigen damit der Regierung und der Gesellschaft: So sollten wir zusammenleben.“

Seit dem Gezi-Jahr 2013 ist es zur Tradition geworden, dass der Ramadan mit einer Tafel auf dem Galatasaray-Platz im Herzen von Istanbul beginnt – doch in diesem Jahr kam es anders. Mit Schlagstöcken prügelte die Polizei am ersten Abend des Fastenmonats die Menschen auseinander, die ihre Teppiche und Decken in der Fußgängerzone auslegen wollten. Ihsan Eliacik wurde von Polizisten niedergeworfen, über das Pflaster geschleift und abgeführt.

Regierung verbietet Veranstaltungen

Die Regierung verbietet schon länger alle Veranstaltungen auf dem Galatasaray-Platz, weil sie Massenproteste unterbinden will. Vor der „Tafel auf der Erde“ fürchte sich die AKP aber ganz besonders, sagt Eliacik. Die islamisch-fromme Elite der Türkei fahre in Luxuskarossen zu glanzvollen Empfängen zum Fastenbrechen vor. „Wenn diese Leute sehen, dass wir auf dem Boden sitzen und uns Datteln und Wasser teilen, dann kommt unsere Botschaft durchaus bei ihnen an – und sie gefällt ihnen nicht.“

Manche AKP-Anhänger finden auch, dass sie ein Recht darauf haben, im Luxus zu schwelgen, wie der Theologe berichtet. „Sie sagen: ‘Wir Muslime haben jahrzehntelang nichts abbekommen, wir waren immer ausgeschlossen von der Macht und dem Reichtum und den Fleischtöpfen des Landes‘“, sagt Eliacik. „‘Nun sind wir endlich an der Macht und können uns auch mal bedienen aus den Fleischtöpfen, und dann kommst du an und predigst Datteln und Wasser und auf dem Boden hocken!‘“

Als Verräter gelte er Anhängern der AKP deshalb, sagt Eliacik. Dabei sei er es doch, der im wahren Sinne des Glaubens handele. „Wenn wir weiterkommen wollen als Gesellschaft, dann müssen wir zusammen reden können. Mit der Tafel auf der Erde versuchen wir das zumindest im Ramadan. Wir sagen: ‚Kommt, wir setzen uns zusammen und reden, Fromme und Atheisten, Rechte und Linke – das ist unsere Botschaft.‘“

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