Verfassungsschutzbericht 2011: Geheimdienst in der Defensive
Der erste Verfassungsschutzbericht nach Entdeckung der NSU-Morde wird präsentiert: Man sieht sich verkannt und rühmt Erfolge – gegen Islamisten.
Wohl noch nie ist ein neuer Verfassungsschutzbericht so sehr aus der Defensive heraus präsentiert worden. „Ohne Frage“ sei Vertrauen „erschüttert“ und „beschädigt worden“, sagte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, als er gemeinsam mit dem scheidenden Behördenchef Heinz Fromm den Bericht des Geheimdienstes für 2011 vorstellte. „Es gab auch Misserfolge“, gab der CSU-Politiker zu, nannte dabei an erster Stelle das Versagen der Behörden bei der raschen Aufklärung des Terrors der Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU).
Zugleich betonte Friedrich erneut, dass der Verfassungsschutz zwar reformiert werden müsse, aber auf keinen Fall abgeschafft werden dürfe. Als „Frühwarnsystem“, wie sich das „die Väter der Verfassung“ gewünscht hätten, bleibe der Verfassungsschutz auch weiter unverzichtbar.
Eckpunkte für eine Reform sollten bis zum Herbst vorliegen, kündigte Friedrich an. Denkbar ist aus Sicht des Ministers unter anderem die Zusammenlegung von einzelnen Landesämtern. Das sei „durchaus etwas, was man mit den Ländern besprechen muss“. Der in einer Journalistenfrage enthaltenen Feststellung, einzelne Landesbehörden agierten „zu schlafmützig“, widersprach Friedrich nicht explizit. Er versicherte, die Reform des Behördenapparats werde „sehr zügig“ angegangen.
Bildergalerie: Die Opfer der NSU
Auch Fromm, der nach zwölf Jahren an der Spitze der Behörde auf eigenen Wunsch und nach öffentlicher Kritik am Amt in den Altersruhestand geht, beschäftigte sich bei der Vorstellung des 368-seitigen Berichts für 2011 ausführlich mit der Krise des Verfassungsschutzes. Das Amt habe über all die Jahre „auch erfolgreiche Arbeit“ geleistet. Er erwarte aber inzwischen gar nicht mehr, dass das zur Kenntnis genommen werde. Alles werde überlagert durch eine „unglückselige Angelegenheit“, wie er das Schreddern von Verfassungsschutzakten zum NSU-Komplex nannte. Friedrich ergänzte, diese Aktion eines Mitarbeiters habe Raum gelassen „für alle möglichen Spekulationen und Verdächtigungen, das darf nicht sein“.
Empört wies Fromm den Verdacht zurück, der neue Bericht könnte falsche Fakten enthalten. Über Jahrzehnte hätten sich die ermittelten Zahlen als belastbar erwiesen. „Ich bin nicht bereit, all das, was an Positivem geleistet worden ist, zu ignorieren. Das wäre unfair.“ Auf die Mitarbeiter sei „immer Verlass“ gewesen. Die Disziplinarverfahren gegen einen Referatsleiter, der Akten zum NSU-Komplex geschreddert hat, sowie gegen zwei seiner Vorgesetzten laufen laut Fromm noch.
Erfolge beim Kampf gegen islamistischen Terrorismus
Zur Begründung für die Notwendigkeit der Behörde verwiesen Friedrich und Fromm auf Erfolge unter anderem beim Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Strömungen des radikalen Salafismus etwa gehörten in Deutschland inzwischen schätzungsweise 3800 Menschen an. „Das ist eine ganze Menge“, sagte Fromm, ein Teil von ihnen propagiere eindeutig auch Gewalt.
Ausdrücklich nicht täuschen lassen sollte man sich nach den Worten des scheidenden Verfassungsschutzpräsidenten vom Umstand, dass das Personenpotenzial des Rechtsextremismus erneut gesunken ist. Es wird im neuen Bericht mit 22 400 Personen angegeben, nach 25 000 im Jahr 2010 und 26 600 im Jahr zuvor. Das hat laut Fromm vor allem mit einem Mitgliederrückgang der NPD und der „Agonie“ der inzwischen mit ihr vereinigten Deutschen Volksunion (DVU) zu tun. Für die Partei enttäuschende Resultate bei den vergangenen Landtagswahlen haben aber laut Verfassungsschutz nichts daran geändert, dass die NPD ihre „zentrale Stellung“ im rechtsextremistischen Spektrum behaupten konnte.
2011 gab es dem Bericht zufolge 260 rechtsextremistische Kundgebungen, so viele wie noch nie einem Jahr. Ausführlich schilderte Fromm auch neue Aktionsformen, beispielsweise nächtliche Aufmärsche von sogenannten „Unsterblichen“, von denen im vergangenen Jahr 15 registriert worden seien. Mit weißen Masken vermummt und mit Fackeln zögen die Neonazis durch Wohngebiete. Sie wollten dabei allerdings meist gar nicht die örtliche Bevölkerung agitieren, sondern stellten später Videos ins Internet, die suggerrierten, Tausende seien bei diesen Fackelmärschen unterwegs. Vergleichsweise knapp hielten Friedrich und Fromm ihren Darstellung zum Komplex Linksextremismus. Sie hoben aber eine Steigerung von „militanter konfrontativer Straßengewalt“ hervor. Von erhöhter Aggressivität, gestiegener Risikobereitschaft und koordinierter Planung ist die Rede.
Zum Nachfolger Fromms berief das Bundeskabinett am Mittwoch Hans-Georg Maaßen, Ministerialdirigent aus dem Bundesinnenministerium, der sein Amt zum 1. August antreten soll. Der 49-jährige Beamte, seit 2008 Leiter des Stabs Terrorismusbekämpfung im Ministerium, wurde von Friedrich als „ausgewiesener Experte“ und „brillanter Jurist“ angepriesen. Dass die Grünen pünktlich zu Maaßens Berufung dessen Rolle in der Affäre um den jahrelang im US-Gefängnis Guantanamo inhaftierten Murat Kurnaz hinterfragt hatten, nannte Friedrich „dreist“ und „unglaublich“.
Der Ministerialdirigent war damals Referatsleiter für Ausländerrecht im Bundesinnenministerium und für die rechtliche Begründung einer Einreiseverweigerung für den in Deutschland geborenen Türken zuständig. Die Türkische Gemeinde (TGD) kritisierte, Maaßen sei für seine „restriktive Haltungen zum Migrations- und Flüchtlingsrecht“ bekannt. Es sei aber jetzt ein Experte „gegen Rassismus und Rechtsterrorismus“ nötig, sagte TGD-Chef Kenan Kolat.