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"Die Schuld trifft nicht Europa", meint der Autor des Buches
© Olmo Calvo,dpa

Buchkritik: Gegen die Phrasen in der politischen Sprache

Dissens war wegen der Allgegenwart von Phrasen lange kaum möglich, meint Alexander Kissler. Er zeigt, welche Phrasen sich eingeschlichen haben. Eine Rezension des Buches "Widerworte".

Die Liste der Phrasendrescher, die in diesem Buch durch den Kakao gezogen werden, ist lang. Ganz vorne steht Frank-Walter Steinmeier, gefolgt von Angela Merkel, Margot Käßmann, Papst Franziskus, Katrin Göring-Eckart.

Es geht also weniger um politische Floskeln an sich, sondern um flüchtlingsfreundliche, kirchentagstaugliche, friedensbewegte, humanitäre und ökologisch orientierte Sprachmuster: „Vielfalt ist unsere Stärke“, „Wir schaffen das“, „Jeder verdient Respekt“, „Europas Werte ertrinken im Mittelmeer“ oder „Unser Reichtum ist die Armut der Anderen“.

Die Auswahl der Gegner und ihrer vermeintlichen Phrasen deutet an, von welcher These sich der Autor in seinen 15 glänzend formulierten Essays leiten lässt: Eine alles überwölbende, christlich geprägte Weltverbesserungsrhetorik habe nach Merkels „Grenzenschließungsverweigerungsmaßnahme“ 2015 den Diskurs dominiert. Dissens war wegen der Allgegenwart der Phrasen kaum möglich.

Überspitzt könnte man sagen: Was im Rechts-Jargon den „linksgrünversifften Haltungsmedien“ angekreidet wird, das veredelt der Kulturjournalist der Zeitschrift „Cicero“, Alexander Kissler, mit seinen scharfsinnigen Exegesen und pointierten Ausflügen in die Geistes- und Religionsgeschichte.

Aber klug und kühl bleibt eben - kühl. Im Beitrag über die im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge heißt es: „Die Schuld trifft nicht Europa. Jeder Mensch trägt die Verantwortung für die Folgen seines Tuns. Die Schlepper sind ebenso verantwortlich wie deren migrierende Kunden, ebenso die Potentaten, denen das Leben ihrer Bürger gleichgültig ist, und eine überbordende Willkommensrhetorik, die den Eindruck vermittelt, es gäbe ein Recht auf dauerhafte Niederlassung in Europa samt Anschluss an die europäischen Sozialsysteme für alle Menschen dieser Erde.“

Wer das für eine ausreichende Beschreibung der moralischen Dimension dieser Problematik hält, wird auch den Rest der fulminanten Abrechnungsschrift, die unter dem Label firmiert, stilistische Sprachanalyse zu betreiben, gerne lesen. Ob sie dazu beiträgt, wie Kissler hofft, „dass das Denken beginnen und die Freiheit wieder wachsen kann“, möge jeder für sich entscheiden.

Das Buch als Tweet: Wir schaffen das - nicht. #DankeMerkel

Alexander Kissler: „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“, Gütersloher Verlagshaus, 204 Seiten, 18 Euro

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