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Intervention zum deutschen Meinungskampf zu Waffenlieferungen an die Ukraine. Jürgen Habermas..
© picture alliance / dpa

Aufrüstung und Entrüstung im Ukrainekrieg: Gegen die moralische Selbstgerechtigkeit

Der Philosoph Jürgen Habermas meldet sich mit einem eindringlichen Essay zum Ukrainekrieg zu Wort - und verteidigt Bundeskanzler Scholz.

Ein Essay von Gregor Dotzauer

Angesichts der deutschen Hysterien, die rechte Bellizisten, gewendete linke Pazifisten und des empathielosen Zauderns geziehene Bedenkenträger um die richtige Antwort auf den Ukrainekrieg streiten lässt, ist der Essay, den der 92-jährige Philosoph Jürgen Habermas nun veröffentlicht hat, wohltuend abgeklärt.

Und mehr als das: In der Beschreibung des Dilemmas, in dem die Ampelregierung in Bezug auf Waffenlieferungen steckt, könnte der am Donnerstag in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienene Text nicht eindringlicher sein.

Er enthält keinerlei politische Handlungsanweisung – auch wenn Habermas die Zurückhaltung von Bundeskanzler Scholz verteidigt und die „bekenntnishafte Rhetorik", mit der Außenministerin Annalena Baerbock ihrer Erschütterung authentischen Ausdruck verliehen habe, als Ausweis eines durch die Unmittelbarkeit seiner Identifikation mit der ukrainischen Führung nicht unproblematischen Moralismus heranzieht.

Mit bezwingender Klarheit rekapituliert er noch einmal die Positionen der letzten Wochen und zeigt, dass simple Alternativen wie Sieg versus Niederlage oder regionaler Konflikt versus atomarer Weltenbrand bei der Entscheidungsfindung wenig helfen.

Das Alter gibt ihm die Perspektive vor

Die philosophische Intonierung ist dabei ein Vorteil – und das Alter des Autors kein Nachteil: Habermas nimmt für sich ausdrücklich die Erfahrungen eines vom Kalten Krieg geprägten Menschen in Anspruch, dessen Perspektive sich von einer „zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogenen“ Generation unterscheidet.

Unter den vielen Strängen seiner Argumentation, mit denen er die „Selbstgewissheit“ entrüsteter Schuldzuweisungen an Scholz zurückweist, ist der Hinweis auf eine entscheidende Asymmetrie. Nicht Deutschland, sondern der russische Präsident Wladimir Putin entscheide, wann die völkerrechtlich definierte Schwelle überschritten wird, „jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraine auch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet“.

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Gerade der mögliche Einsatz „kleiner“ Atomwaffen, die, wie Habermas anmerkt, nur entwickelt worden seien, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zu machen, mache die Lage brenzlig. Vor allem wendet er sich gegen den „frommen Selbstbetrug“, mit dem friedensverliebte Kriegstreiber aus der „Zuschauerloge“ von einem Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Soldateska träumen, ohne selbst Waffen in die Hand nehmen zu müssen.

Wenn in ferner Zukunft einmal ein Dokument gesucht wird, das der heillosen Zerrissenheit dieser Zeit exemplarisch Ausdruck verleiht: Habermas hat es geschrieben. Als skeptisches Manifest flankiert es einen parallel erschienenen, von Alice Schwarzer bis zu Alexander Kluge unterzeichneten Offenen Brief, der den Bundeskanzler um risikobewusstes Handeln bittet.

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