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In der Nachfolge der Kritischen Theorie. Jürgen Habermas, am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren.
© picture alliance / dpa

Jürgen Habermas wird 90: Die unbezähmbare Kraft von Öffentlichkeit

Vertrauen auf die Vernunft: Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas gehört zu den einflussreichsten Denkern unserer Zeit. Eine Würdigung zum 90. Geburtstag.

In den Vorlesungen, die Jürgen Habermas Anfang der 1990er Jahre hielt, las er aus seinen jüngsten Manuskripten. „Viel zu schwierig“ sei es, maulten einige Studierende, während andere sich in langen Nächten die Köpfe über die vorab kursierenden Texte heißredeten. Unvorstellbar erscheint dies heute in einem streng verwalteten Universitätsbetrieb, in dem die Studierenden häppchenweise an „Lerninhalte“ herangetragen werden. Schnell wird deutlich, was im Laufe der Jahrzehnte auf der Strecke geblieben ist: eine Vorstellung von Philosophie als nicht enden wollende Diskussion, die aufwühlt, entzweit, verbindet, in jedem Fall aber politisch ist.

Von Anfang an besitzen Habermas’ Arbeiten sowohl wissenschaftliche als auch politische Sprengkraft. Sozialisiert noch während der Nazizeit und als Flakhelfer eingezogen, wurde er als junger Erwachsener mit dem „kommunikativen Beschweigen“ (Hermann Lübbe) brauner Biografien konfrontiert. Die Auschwitzprozesse und die „Spiegel“-Affäre waren politische Schlüsselerfahrungen, die den militärisch besiegten Nationalsozialismus zur politischen Gegenwart machten und Habermas zum öffentlichen Widerspruch reizten.

Vom Marx'schen Erbe ist er nie abgerückt

Der traf zunächst den damals bekanntesten deutschen Philosophen. Habermas’ „FAZ“-Artikel zu Martin Heidegger aus dem Jahre 1953 löste einen Skandal aus. Und das nicht etwa weil Habermas zeigte, wie Heidegger kommentarlos das, was er unter der Naziherrschaft gesagt und getan hatte, wiederveröffentlichte und sich damit offenbar noch immer im Recht glaubte. Vielmehr galt als politischer Affront, das unausgesprochene kollektive Verdrängen der Nazizeit aufhalten zu wollen. Abgesehen von der öffentlichen Empörung führte das dazu, dass der Doktorand Habermas von Erich Rothacker, seinem Doktorvater, und einigen Altnazis einbestellt wurde.

Die intellektuelle Nähe zu jenen zu suchen, die während der Nazizeit als Widerstandskämpfer oder Vertriebene Deutschland verlassen mussten, lag da nahe. Das Programm der frühen Frankfurter Schule, dem Habermas sich verpflichtet fühlte und das er zugleich immer wieder kritisierte, verzahnte Philosophie mit Sozialwissenschaften zu einer kritischen Gesellschaftstheorie. Von diesem Marx’schen Erbe, zugleich der Kern seiner Arbeit, ist Habermas nie abgerückt.

Philosophie ohne Bezug auf gesellschaftliche Wirklichkeit, so die zentrale Annahme, bleibt zwangsläufig ein abstraktes und leeres Unterfangen, während die Sozialwissenschaften, die sich nicht normativen Fragen stellen, in den Mühlen technokratischer Verwertbarkeit stecken bleiben. Eine Kritik, die angesichts einer allzu spezifischen Philosophie und kleinteiligen Soziologie an Aktualität nichts eingebüßt hat.

Er wies 1968 die Utopie einer "Totalrevolution" zurück

Habermas kann sich diese Kritik aber auch deshalb leisten, weil er weder nur Philosoph noch nur Soziologe ist, sondern im besten Sinne das, was gerade heute allenthalben gefordert, aber fast nie eingelöst wird: Er ist ein interdisziplinärer Denker. Einer, der sich so ausdauernd wie umfassend durch die Theorien vieler Disziplinen durcharbeitet, um diese dann seiner eigenen kritischen Gesellschaftstheorie einzuverleiben. Ausdrücklich nicht als Philosoph, sondern als Bürger hat Habermas die politischen Debatten der Bonner und Berliner Republik mitgeprägt, was ihm mal den zweifelhaften Ruf eines „Staatsphilosophen“, mal den kaum weniger ambivalenten einer „moralischen Instanz“ einbrachte.

Während der Studentenbewegung in den 60er Jahren, die er zunächst unterstützte, wies er die Utopie einer „Totalrevolution“ aller gesellschaftlichen Verhältnisse als „Scheinrevolution“ zurück, da er unbedingt an einer demokratischen Verfassung festhalten wollte. Auf dem Höhepunkt der Bekämpfung des RAF-Terrorismus in den 70er Jahren warf er linken Professoren vorauseilende Unterwerfung vor, weil diese als Beamte nochmals ein schriftliches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterschrieben hatten.

Die Art und Weise, wie es zur Wiedervereinigung gekommen war, kritisierte er als undemokratischen Anschluss an Westdeutschland. Die Interventionspolitik der Bundesrepublik im Kosovo verteidigte er als legitimen Zweck zur Durchsetzung der Menschenrechte. Und etwa zeitgleich sah er in einer „Weltinnenpolitik“ Chancen für eine freiheitliche demokratische Weltordnung, die einer ökonomischen Globalisierung Grenzen setzen könnte. Das Projekt einer Europäischen Union hingegen ist ein Dauerbrenner seiner intellektuellen Aktivitäten. Habermas kritisiert die EU wegen ihrer technokratischen Verwaltung und fehlenden Demokratie, nur um sie ebenso unermüdlich, wenn auch in letzter Zeit mit desillusioniertem Unterton, als Friedens- und Wohlstandsgarant zu verteidigen. Wenn es denn sein muss, auch mit Macron gegen Merkel.

Moral und Demokratie gehören untrennbar zusammen

Die Klammer seines Regalreihen füllenden Werkes bildet die Vernunft. Die liegt weder, wie bei Kant, im Metaphysischen, noch, wie bei Adorno, in einer vagen moralischen Intuition, sondern in der Sprache selbst. Im Sprechen unterstellen wir, dass wir mit einem besseren Argument zur Einigung über umstrittene Ansprüche gelangen können. Diese kommunikative Vernunft, ein zentraler Begriff bei Habermas, wurde zunächst Grundlage seines moralphilosophischen Programms, der Diskursethik. Normen werden in einer Art diskursivem „Universalisierungstest“ daraufhin überprüft, ob sie für alle Menschen gelten könnten.

Auch wenn die Diskursethik innerhalb der Moralphilosophie an Bedeutung verloren hat, so ist sie doch von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Habermas’ Vorstellung von Demokratie und Öffentlichkeit. Die Moral wandert in gewisser Weise in die Demokratie ein und wird zu einem nicht wegzudenkenden Prinzip politischer Beteiligung: Die öffentliche Meinung soll sich inklusiv und auf faire Weise herausbilden, und zwar so, dass alle von Gesetzen Betroffenen teilnehmen können – ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, des Alters, des Dialekts, der religiösen Zugehörigkeit.

Eine Vorstellung von Demokratie mit enormer Sprengkraft, da sie wirklich alle einschließt und die Demokratie von ihren nationalstaatlichen Fesseln befreit. Die aber oft genug als „Feiertagstheorie“ belächelt wurde. Habermas ist jedoch ein viel zu politisch denkender und soziologisch geschulter Philosoph, um nicht die unbezähmbare und anarchische Kraft von Öffentlichkeit als genau das zu sehen, was sie ist: eine zentrale Grundlage von Demokratie, die Bürgerbeteiligung ernst nimmt und soziale Kämpfe zulässt. Nur diese setzen kapitalistischen und technokratischen Übergriffen Grenzen.

Gegen die Krise der EU hilft: radikal mehr Demokratie

Die kommunikative Macht der Bürger, die schon in seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich in Wahlen und im parlamentarischen System. Aber noch offensichtlicher bahnt sie sich in jenen Augenblicken ihren Weg, wenn Revolutionäre die Macht ergreifen, Minderheiten aufbegehren und „wenn eine zum passiven Widerstand entschlossene Bevölkerung fremden Panzern mit bloßen Händen entgegentritt“, wie es 30 Jahre später in „Faktizität und Geltung“ heißt.

Dieses ungebrochene Vertrauen in die Öffentlichkeit führt dazu, dass Habermas den europäischen Rechtspopulismus recht nüchtern nicht als Krankheit sieht, von der die Bürger erfasst sind, sondern als Symptom einer tiefer liegenden Krise der Europäischen Union. In der Unfähigkeit und dem fehlenden politischen Willen der europäischen Eliten, die Europäische Union handlungsfähig zu gestalten, zeigt sich eine handfeste politische Regression, die Europa und die Demokratie in einen Strudel des Zerfalls hineinzuziehen droht. Dagegen hilft nur radikal mehr Demokratie. Doch ist das angesichts neuer sozialer Medien, Bots und Fake News, in denen man vergeblich nach Argumenten sucht, nicht heillos antiquiert? Wie so oft eine Sache der Perspektive.

Vor dem Hintergrund des Habermas’schen Öffentlichkeitsbegriffes treten die Verzerrungen von Kommunikation, die Beschränkungen, die Lügen, Manipulationen und ökonomischen Unterwanderungen umso konturierter zutage. Das Web2.0 besitzt (noch) alle Anzeichen einer aufgeklärten Öffentlichkeit, wie uneingeschränkter Zugang, keine Vorgaben hinsichtlich der Themenwahl und ebenbürtiger Austausch. Hier erscheinen die Habermas’schen Demokratiekriterien nicht als fernes Ideal, sondern als Spielregeln, die man nicht einfach der Macht von Medienkonzernen, staatlichen oder überstaatlichen Interessen preisgeben sollte.

Gegen Technokratie und Entdemokratisierung, gegen Terror, Gewalt und Unterdrückung setzt Habermas die gemeinsame Sprache der Vernunft. Auf sie, und das ist das Tröstende seines Erbes, können wir vertrauen. Auch wenn die kommunikative Vernunft immer wieder bedroht ist und verteidigt werden muss. Eine Philosophie, die nur „gelernt“ wird und nicht zu unserem Alltag wird, ist auf fatale Weise blind für diese Bedrohung. Sie erstickt, auch daran erinnert er uns heute an seinem 90. Geburtstag, die politische Fantasie.

Regina Kreide

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