Alltag im Pflegeheim: "Gefallen Ihnen die Dahlien?"
„Sehr“, antwortet die alte Dame. Dann fängt sie an zu weinen. Von einem gewissen Alter an tut auch die Freude weh. Aus dem Alltag einer Pflegerin – der deprimierender ist, als er sein müsste.
Die Russen stehen im Vorgarten. Herr Brach kann sie hören, er kann sie fühlen, er hat ihre Anwesenheit schon einmal gespürt, damals, als sie seine Schwester vergewaltigt haben. Weg, bringen Sie mich weg hier, flüstert er flehend. Der ganze Körper zittert, sein Hemd ist schweißgetränkt. Doch Magda Ziebert kann ihn nicht retten – nicht jetzt. Zimmer 13 hat Stuhlgang. „Ich komme später wieder“, verspricht sie Herrn Brach, schließt die Tür und hastet weiter dorthin, wo das nächste rote Licht brennt.
Auf dem Gang, durch den Magda Ziebert rennt, gibt es 35 solcher Lichter. Der Gang gehört zum Ida-Wolff-Pflegewohnheim in Neukölln. 35 Lichter für 35 Bewohner, die der Trakt beherbergt, und für die in der Spätschicht zwei Pfleger da sind. Es ist Dienstagabend, 21.15 Uhr. Momentan leuchten fünf Lichter, dort, wo Bewohner per Knopfdruck um Hilfe gerufen haben. Manche haben Halluzinationen, anderen ist heiß oder kalt, wieder andere sind einfach nur einsam. Im Zimmer hinten rechts ist eine Dame aus dem Bett gefallen. Gebrochen scheint nichts zu sein, dennoch wird Ziebert sie für den nächsten Tag zum Röntgen anmelden. Ein Piepton. Die Bewohnerin auf dem Toilettenstuhl wird ungeduldig. Zu Recht, sagt Magda Ziebert. Wieder läuft sie durch den Flur, ihr Atem geht schnell. Ihre Sohlen quietschen auf dem Linoleum.
Magda Ziebert, 44, ist gelernte Altenpflegerin. Menschen wie sie werden in Deutschland dringend gebraucht. Die Gesellschaft wird älter, und immer weniger Deutsche können oder wollen ihre Angehörigen zu Hause pflegen. 220 000 Pflegefachkräfte, prognostiziert der arbeitgebernahe Bundesverband Privater Anbieter, werden in den kommenden neun Jahren zusätzlich gebraucht.
Magda Ziebert hat drei Kinder. Zur Spätschicht geht sie zweimal in der Woche, aber lieber ist ihr die Frühschicht, die von sechs bis 14 Uhr, weil sie dann zu Hause sein kann, wenn die Schule aus ist. Morgens sind sie zu viert auf der Etage, das macht einiges einfacher. Aber weniger zu tun ist deshalb nicht. Es ist halb sieben, als Ziebert am Montagmorgen in Zimmer eins die Vorhänge aufzieht. Da warten etliche Bewohner schon unruhig darauf, dass endlich etwas passiert. „Haben Sie gut geschlafen?“ Das Kreuz, die Lunge – Magda Ziebert ist übellaunige Antworten gewöhnt. Auch, dass die Bewohner protestieren, wenn sie ein Fenster öffnen will, obwohl es riecht.
14 Mal schiebt Ziebert an diesem Morgen den fahrbaren Toilettenstuhl zurück in den Raum mit der Aufschrift „Arbeitsraum unrein“, leert den Plastikeimer, tauscht ihn gegen einen sauberen, desinfiziert den Sitz. Die alten Leute auf den Stuhl zu heben, kostet sie Kraft. Einmal hat eine Pflegerin eine noch recht rüstige Bewohnerin gebeten: „Lassen Sie sich nicht so gehen. Helfen Sie ein bisschen mit.“ So etwas spricht sich rum unter den Angehörigen. „Sie setzen unsere Mutter unter Druck?“, fragen dann die Kinder aufgebracht am Telefon.
Magda Ziebert schüttelt Kissen und Bettdecken auf, reicht Schnabeltassen mit Tee und Saft für trockene Kehlen, wäscht, cremt ein und zieht an. „Wann gibt es Frühstück? Ich habe Hunger“, wird sie gefragt. Anschließend verteilt sie Medikamente.
Eine Dame will ihre Tabletten nicht schlucken. „Ich habe keine Schmerzen, das habe ich Ihnen gestern schon gesagt“, beschwert sie sich. „Eben weil Sie die Schmerztabletten nehmen“, antwortet die Pflegerin. Im Flur kommt ein Bewohner auf sie zugeschlurft und knallt ihr den elektrischen Rasierapparat, den sie für ihn besorgt hat, auf den Medikamentenwagen. Zwei Pillenbecher fallen herunter. „Der Apparat ist atomar verseucht“, sagt der Mann, sie solle sich das Ding sonst wohin schieben. Magda Ziebert fasst ihn vorsichtig am Arm und begleitet ihn zurück in sein Zimmer. Herr Friederich hat eine schwere Demenz. Er meint es nicht so, wenn er schimpft.
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Im Tagesraum läuft das Radio, ein Oldiesender. Drei Zebrafinken zwitschern in ihrem Käfig. Setzkästen und Stickbilder hängen an der Wand, sie haben Bewohnern gehört, die gestorben sind. Die Angehörigen wollen diese Art von Erbe selten haben. Was nicht abgeholt wird, wandert in den Nachlasskeller. Hin und wieder geht ein Möbelstück auch in den Besitz eines neuen Bewohners über. Fernseher sind beliebt. Im Tagesraum liegen Puzzle und Brettspiele bereit, damit man sich mehr miteinander beschäftigt. Doch daran ist nicht jeder interessiert.
„Die Frau neben mir ist blöd“, beklagt sich eine Bewohnerin laut. „Die sagt ständig nur: Ich weiß nicht.“ Ihre Sitznachbarin lehnt sich nach vorne, schreit: „Ich bin nicht blöd!“ – „Dann habe ich mich geirrt.“
In einer dunkelbraunen Pappschachtel auf dem Arzneischrank sammeln die Mitarbeiter, was sie zu Hause aussortieren. Abozugaben, alte Opern-CDs, Parfumproben. Das wöchentliche Bingospiel ist ein Highlight im Heimalltag, dabei beweisen die alten Leute erstaunliche Reaktionsschnelligkeit. Aber manche werden mürrisch, wenn es keine Preise gibt.
Eine von Zieberts Kolleginnen hat einen kleinen Garten außerhalb von Berlin. An freien Wochenenden pflückt sie Blumen, die sie später auf den Tischen im Tagesraum verteilt. Einige Bewohner stecken dann ihre Nasen in die dicken Blütenköpfe und berichten von den Gärten, die sie selbst einst hatten. „Gefallen Ihnen die Dahlien?“, fragt die Pflegerin eine Frau, die reglos in den bunten Strauß vor sich starrt. „Sehr“, antwortet die – und fängt an zu weinen. Von einem gewissen Alter an tut auch die Freude weh, hat Charlie Chaplin einmal gesagt.
Dass die meisten Heimbewohner sich unwohl fühlen, dafür können die Pfleger nichts. Es hängt mit der Situation an sich und mit dem Alter zusammen, liegt in der Natur der Sache, sich abgeschoben zu wähnen, von den Familien verlassen. Sie sind verzweifelt, weil ihnen klar ist, dass dies ihre letzte Station sein wird. Oftmals beginnen im Alter auch Erlebnisse in den Menschen zu arbeiten, die jahrzehntelang im Verborgenen geruht haben. So wie bei Herrn Brach, der plötzlich mit 92 Jahren wieder mittendrin steckt im Krieg. „Alles ist gut, Herr Brach, ich habe nachgesehen, da ist niemand“, sagt Magda Ziebert und drückt seine Hand. „Er will nach Hause“, sagt Brachs Zimmergenosse. Viele weigern sich, das Heim als ihr Zuhause anzunehmen. Eine Bewohnerin unterhält seit drei Jahren ihre Wohnung weiter, ohne sie jemals wieder betreten zu haben. „Wenn es mir besser geht, gehe ich heim“, erzählt sie jedem, der ihr über den Weg läuft.
Als Magda Ziebert den Medikamentenwagen zurück zum Schwesternzimmer schiebt, wartet dort die Frau aus Zimmer zwölf, klammert sich an das Holzgeländer. „Hat meine Tochter angerufen?“ Ihre Tochter ist seit neun Jahren tot. Eine andere Bewohnerin klingelt, um zu beichten: Einmal hat sie ihren Stiefsohn geohrfeigt – vor 51 Jahren. Die Vergangenheit gewinnt enorm an Bedeutung für diejenigen, die wenig Zukunft haben. Sie möchten darüber reden, sich erklären, suchen Trost und Aufmerksamkeit. Die Menschen kommen oft mit wenigen Habseligkeiten. Aber sie bringen ihr Leben mit.
Und dann sind da diejenigen, die damit hadern, übrig geblieben zu sein: „Ein paar wollen einfach nicht mehr“, sagt Ziebert. Gelegentlich, wenn sie einen von ihnen aus dem Schlaf hole, sehe sie seinen müden Augen an, dass er enttäuscht ist – darüber, ein weiteres Mal aufgewacht zu sein. Besser dran scheinen da die demenziell Erkrankten zu sein. Die brabbeln mitunter fröhlich vor sich hin, sind verzückt, wenn man ihnen einen Löffel Wackelpudding in den Mund schiebt. Wenn die Pflegerin ihre Wange streichelt, lächeln sie selig.
Gute Momente, sagt Ziebert. Sie erlebt an diesem Arbeitstag noch zwei weitere: „Ich habe Sie gestern vermisst, kleine Maus“, sagt eine Bewohnerin, die selbst, wenn man sie aus ihrem Rollstuhl aufrichtete, zwei Köpfe kleiner wäre als Magda Ziebert. Eine andere, die früher als Schneiderin gearbeitet hat, schaut der Pflegerin beim Bettenmachen zu und sagt: „Ein feines Hemd haben Sie da an. Es ist stets eine Freude, Sie zu sehen, Fräulein!“
Gute Momente, von denen es nicht genug gibt, als dass sie die anderen aufwiegen könnten. Immer weniger Menschen möchten Pfleger werden oder es länger sein. Aus freien Stücken entscheide sich kaum mehr jemand dafür, meinen Berufschullehrer. In den Heimen blickt man mit Sorge auf die Auszubildenden und Aushilfen, die das Arbeitsamt schickt. Sie leisten gerade so ihre Pflicht ab. Noch nicht lange her, da hat eine Auszubildende sich übergeben, als sie zum ersten Mal einen fremden Hintern abwischen sollte. „Alte Körper sind nicht bloß alte Körper“, sagt Magda Ziebert. Viele haben kaum mehr Konturen. Manche sind wundgelegen und bluten. „Diese Bilder und Gerüche erträgt nur, wer mit Herz bei der Sache ist“, sagt die Pflegerin.
Die guten Momente waren auch Cordula Meyer irgendwann nicht mehr genug. Sie ist 49 Jahre alt, gelernte Pflegefachkraft und hat ihr Berufsleben in der geriatrischen Abteilung eines großen Krankenhauses begonnen. Vor zehn Jahren ist sie komplett in die Altenpflege gewechselt, in das Gebäude, das jetzt ockergelb hinter ihr aufragt. Jetzt sitzt Meyer auf einer Bank vor dem Heim. Seit neun Monaten arbeitet sie dort nicht mehr – und auch nirgendwo sonst. Mit einem Mal wurde ihr alles zu viel, die Ärzte diagnostizierten Burn-out. Sie habe ihren Job geliebt, sagt Cordula Meyer, ihn aus Überzeugung gewählt. „Aber der ganze Rahmen ... Da war nichts mehr schön.“
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Die Zeiten haben sich geändert. Seit Ende der 90er Jahre gibt ein Stufensystem den Pflegekräften vor, wie viel Zeit pro Tag für einen Pflegebedürftigen „aufzuwenden ist“. 140 Minuten sind das im Schnitt. Anhand dieser Einschätzung errechnet die Pflegeversicherung, wie viel Personal einer Einrichtung zusteht. Viel zu knapp bemessen, findet Cordula Meyer, „die Zeit reicht kaum für die Grundpflege“. Und dann soll jeder Schritt, jedes Umlagern und jede Wundveränderung dokumentiert werden. Andernfalls verteilt die Prüfstelle schlechte Noten – ganz gleich, ob alles gewissenhaft ausgeführt wurde. Für anderweitige Zuwendung, Gespräche oder Spaziergänge bleibe da keinerlei Raum. „Dabei ist das doch das, was den Beruf ausgemacht hat“, sagt Cordula Meyer. Sie wählt die Vergangenheitsform bewusst.
Als alleinerziehende Mutter zweier Kinder hat Cordula Meyer irgendwann auf Teilzeit reduziert. Ein starker finanzieller Einschnitt war das, bei dem ohnehin schon dürftigen Gehalt. Wenn sie Spät- oder Nachtschichten hatte, habe sie während der Arbeit ungefähr genauso viel verdient, wie sie anschließend dem Babysitter in die Hand gedrückt habe. 2208 Euro brutto bekommt ein Vollzeit arbeitender, examinierter Pfleger in Berlin. Noch vor 15 Jahren verdiente selbst eine Hilfskraft mehr.
Die Politik will dem Mangel an Nachwuchs begegnen, indem sie die Einstiegsvoraussetzungen senkt. „Jeder kann pflegen“, lautet der Tenor. Magda Ziebert kann sich darüber sehr aufregen. „Das heißt doch, der Job sei anspruchslos. Und rechtfertigt, weiter die Löhne zu kürzen.“
Im Gegensatz zur These „Jeder kann pflegen“ steht der gesetzliche Pflegeschlüssel: Er schreibt vor, dass 52 Prozent der Pfleger eines Hauses Fachkräfte sein müssen. „Die Idee ist richtig“, sagt Magda Ziebert. „Aber wenn die Träger keine Fachkräfte finden, können sie auch keine Hilfen einstellen – weil sonst die Quote nicht mehr stimmt.“ Im Ausland gibt es Fachkräfte. Doch viele Abschlüsse werden in Deutschland nicht anerkannt.
Plötzlich, ein Wimmern. In Zimmer vier liegt eine Frau am Boden. Wo der Kopf ist, hat sich eine dunkelrote Pfütze gebildet. „Den Arzt, schnell, den Arzt“, ruft Magda Ziebert. Frau Pahl, 88, ist vornüber aus dem Rollstuhl gekippt. Der Kugelschreiber, den sie für ihr Kreuzworträtsel braucht, ist ihr aus der Hand gefallen. Da hat sie sich nach ihm gebückt. Warum sie keinen Pfleger gerufen habe, wird man Frau Pahl fragen, wenn die Platzwunde vernäht ist. „Die haben doch so viel zu tun“, wird sie antworten.
Am Ende ihrer Schicht hat Magda Ziebert 68 Mal den Raum gewechselt. Sie hat die Reste zweier Mahlzeiten beseitigt, Bettlägerigen zu essen gegeben und andere für ein Nickerchen hingelegt. Der Rundgang, bei dem das „Inkontinenzmaterial“ überprüft wird, ist Aufgabe der nachfolgenden Schicht gegen 16 Uhr. Einige Bewohner leben nach dem Mittagsschlaf regelrecht darauf hin. „Wenn beim Zimmernachbarn das Nachthemd gewechselt wird, ist das für einige aufregender als das gesamte Fernsehprogramm“, sagt Magda Ziebert. „Weil da Menschen live agieren.“
Jetzt muss Magda Ziebert sich beeilen. Bevor ihr Jüngster nach Hause kommt, will sie ein Abschiedsgeschenk besorgen. Für einen Kollegen, der das Haus zum Monatswechsel verlassen wird – er hat ein lukrativeres Angebot bekommen. Nicht in einem anderen Heim, sondern in einem anderen Beruf. Er ist dann Wachmann in einem Einkaufszentrum.
Namen geändert.