Streit um die Versorgung der Pflegebedürftigen: "So schlimm war es noch nie"
Pflegeratspräsident Andreas Westerfellhaus nennt die Versorgungssituation dramatisch – und droht mit einer eigenen Gewerkschaft.
Gesundheitsminister Philipp Rösler hat 2011 zum „Jahr der Pflege“ erklärt. Ist das Aktionismus oder dringend nötig?
Zunächst einmal: Es braucht nicht nur ein Jahr, es braucht viele Jahre der Pflege. Wir werden Manches sehr kurzfristig angehen müssen, Anderes ist nur mittelfristig erreichbar. Jetzt geht es vor allem darum, die vielen Baustellen und Anforderungen an den unterschiedlichsten Ecken sichtbar zu machen. Es hat viel zu lange gedauert, bis die immensen Probleme von Politik und Gesellschaft überhaupt wahrgenommen wurden.
Kritiker sagen, die Probleme in der Altenpflege sind seit 30 Jahren bekannt.
Das ist richtig. Es ist viel zu lange versäumt worden, sich der Herausforderungen anzunehmen. Man hat das immer damit gerechtfertigt, dass man erst einmal gesundheitspolitische Systemveränderungen herbeiführen müsse. Inzwischen aber ist die Versorgungssituation dramatisch geworden. So schlimm war es noch nie – und zwar in allen Bereichen.
Sie machen keinen Unterschied zwischen Alten- und Krankenpflege?
Nein, und zwar ganz bewusst. In den Einrichtungen der stationären und ambulanten Altenpflege haben wir Riesenprobleme, qualifiziertes Personal zu finden. Genauso dramatisch aber ist es in den Krankenhäusern. Viele Kliniken können ihren Betrieb nur noch mit Not oder gar nicht mehr aufrechterhalten, weil ihnen qualifiziertes Pflegepersonal fehlt.
Warum ist der Pflegeberuf so unattraktiv?
Viele bekommen nicht mehr mit, wie attraktiv dieser Beruf ist oder sein könnte, welche Chancen und Perspektiven er bietet. Die Versäumnisse der Gesundheitspolitik haben sich sehr negativ auf das Image der Pflegeberufe ausgewirkt.
Aber es geht auch um Berufserfahrungen. Die Quote derer, die ihren Job aufgeben, ist nirgends so hoch wie im Pflegesektor.
Wer in diesen Beruf geht, tut dies aus bestimmten Gründen. Er will am Menschen arbeiten, ihn qualifiziert versorgen. Wenn er dann merkt, dass er genau das nicht mehr tun kann, wegen Arbeitsverdichtung und wachsender Bürokratisierung, gerät er in inneren Widerspruch. Viele suchen sich dann andere Tätigkeiten oder wechseln ins Ausland. So verlieren wir viele motivierte und qualifizierte Kräfte.
Wieso macht die Branche nicht viel mehr Druck – wie die Ärzte, die sich 30-prozentige Gehaltssteigerungen erkämpft haben?
Erkämpfen kann man nur etwas, wenn man sich gegenseitiger Solidarität sicher ist. Die Pflegenden müssen endlich begreifen, welches Potenzial in ihrer Berufsgruppe steckt, welche Macht sie haben, bessere Arbeitsbedingungen durchzudrücken. Die Ärzte haben das geschafft, sie haben verstanden, an einem Strang zu ziehen – was auch stark zulasten der Budgets für die Pflegenden gegangen ist.
Heißt das: Die Pflegekräfte sind selber schuld an ihrer Misere?
Die Pflegenden sind aufgefordert, sich zu artikulieren. Sie müssen klar sagen: Das machen wir nicht mehr mit, wir lassen es nicht zu, dass man uns von der tariflichen Lohnentwicklung abkoppelt. Und auch die Gewerkschaften müssen endlich reagieren. Wenn sie das nicht tun, werden sich die Pflegenden nach alternativen Möglichkeiten umsehen, um ihre berechtigten Ansprüche durchsetzen.
Sie drohen mit einer eigenen Gewerkschaft nach dem Vorbild der Klinikärzte?
Wenn man sich in einer bestehenden Gewerkschaft nicht vertreten fühlt, muss man seine Interessen selbst in die Hand nehmen. Das geht bei uns nur mit einer Gewerkschaft, und da muss man dann sehen, wie sich das umsetzen lässt. Wir sind 1, 2 Millionen Pflegende in Deutschland, wir haben ein enormes Potenzial. Ich bin kein Verfechter von Aufspaltung und Separatismus. Aber wenn es nicht anders geht, wenn keiner unsere Interessen wirkungsvoll vertritt, müssen wir das selber tun.
Am 1. Mai öffnen sich die Tore für Pflegekräfte aus Osteuropa. Beunruhigt Sie das?
Wir können nicht Fachkräftemangel beklagen und uns gegen Zuwanderung wehren. Jede professionelle Pflegekraft, die zu uns kommt und qualifiziert pflegen will, ist herzlich willkommen. Allerdings fordern wir Transparenz. Patienten und Arbeitgeber müssen sich darauf verlassen können, dass die Krankenschwester aus Osteuropa auch über die Qualifikation einer Krankenschwester verfügt. Das Problem ist, dass wir bisher selber keine Transparenz haben, was die Zahl und die Qualifikation unserer Pflegenden betrifft. Wenn wir jetzt die Türen öffnen ohne diese Transparenz herzustellen, bekommen wir das nicht beherrscht.
Im Moment diskutiert die Politik über ein Versorgungsgesetz. Es geht um Landärzte, Medizinstudenten, Krankenhausbetten – die Pflege kommt nicht vor. Ärgert Sie das?
Natürlich ärgert uns das. Wenn es um die Sicherstellung qualifizierter Gesundheitsleistungen geht, kann man nicht eine große Berufsgruppe außen vor lassen.
Wie könnten Pflegekräfte denn konkret zur besseren Versorgung beitragen?
Sie machen es jetzt schon. Ein gutes Beispiel für vernünftige Aufgabenteilung ist die Versorgung chronischer Wunden. Wenn ein Pflegender eine solche Wunde identifiziert, muss er sie aufgrund seiner Kompetenz auch eigenverantwortlich therapieren dürfen, von der Diagnose bis zur Verordnung von entsprechenden Wundauflagen. Dafür bräuchte es dann natürlich auch ein eigenes Budget.
Bisher ist nirgends klar geregelt, was Pflegekräfte tun dürfen und was nicht.
Das muss jetzt mit dem zu entwickelnden Berufsgesetz geschehen. Wir wollen, dass juristisch klar definiert wird, wer mit welcher Qualifikation welche Leistung erbringen darf. Das dient nicht nur der Patientensicherheit. Es könnte den Menschen auch viel Leid und dem System hohe Kosten ersparen. Viele Transporte vom Pflegeheim ins Krankenhaus etwa wären unnötig, wenn die Pflegenden mehr von dem tun dürften, was sie gelernt haben.
Die Fragen stellte Rainer Woratschka.
Andreas Westerfellhaus (54) ist seit September 2009 Präsident des Deutschen Pflegerates. Er vertritt 1,2 Millionen Pflegekräfte – die größte Berufsgruppe im Gesundheitssystem.