Ehemaliger Außenminister: Gabriel will Aufarbeitung der Flüchtlingspolitik "ohne Schaum vor dem Mund"
Der frühere Außenminister Sigmar Gabriel plädiert für eine aufgeklärte Debatte um die Flüchtlingspolitik. Deutschland habe 2015 die EU-Partner überfordert, kritisiert der SPD-Politiker.
Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hat einen offenen Umgang der deutschen Politik mit den Vorgängen rund um die Flüchtlingskrise der Jahre 2015 und 2016 gefordert. Es sei bislang nicht gelungen, die damaligen Ereignisse „ohne Schaum vor dem Mund“ aufzuarbeiten, beklagte Gabriel am Dienstagabend im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Museumsvereins des Deutschen Historischen Museums, Ulrich Deppendorf, und Tagesspiegel-Chefredakteur Stephan-Andreas Casdorff im Berliner Zeughaus.
Bei der Diskussion mit dem Titel „Europa am Scheideweg – steht Europa vor der Spaltung?“ legte der frühere SPD-Chef im Rückblick dar, dass die damalige Entscheidung Deutschlands, hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen, nicht überall in Europa auf Beifall gestoßen sei. So habe ihm der damalige französische Premierminister Manuel Valls seinerzeit angesichts der deutschen Flüchtlingspolitik vorgehalten, dass Deutschland neben seiner politischen und wirtschaftlichen Spitzenposition in der EU nun offenbar auch noch eine moralische Führungsrolle einnehmen wolle.
Natürlich wäre es nicht ratsam gewesen, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise „die Bundeswehr an der Grenze aufmarschieren zu lassen“, sagte Gabriel. Allerdings habe Deutschland die europäischen Partner mit dem Beschluss über die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen per Quote überfordert.
Ex-Außenminister beklagt Ersatz-Debatten zur Flüchtlingspolitik
Von der Flüchtlingspolitik erwarte er sich „eine aufgeklärte Debatte in Deutschland unter erwachsenen Menschen, die diese Frage ohne Schaum vor dem Mund erörtern“ sagte Gabriel weiter. Statt in „Ersatzhandlungen“ über Fehler beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) oder über die von Innenminister Horst Seehofer geforderten Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze zu diskutieren, sei es entscheidend, sich mit Blick auf den Umgang der Bundesregierung mit der Flüchtlingskrise 2015/2016 noch einmal mit den grundsätzlichen Fragen auseinanderzusetzen: „Was war richtig? Was war nicht richtig? Was haben wir überschätzt? Was haben wir unterschätzt?“ Gabriel beklagte im Rückblick, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Seehofer vor der Bundestagswahl eine „irre Debatte“ über eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen geliefert hätten, bei der in Wahrheit beide im Recht seien. So kenne das Asylrecht im Sinne Merkels keine Obergrenze, andererseits gebe es aber sehr Wohl Grenzen bei der Integrationsfähigkeit, wie Seehofer seinerzeit betont habe.
Gabriel warnte seine eigene Partei, die Wirkung eines Einwanderungsgesetzes zu überschätzen. Angesichts des Migrationsdrucks vom afrikanischen Kontinent werde ein Einwanderungsgesetz allein nicht ausreichen, betonte er. Vielmehr werde die Politik hierzulande die Frage zu beantworten haben, in welcher Höhe Deutschland zu Investitionen in die Regionen bereit sei, aus denen die Flüchtlinge kommen. Die SPD hatte sich in der vergangenen Woche im Asylkompromiss mit der Union auch auf ein Fachkräfte-Einwanderungsgesetz geeinigt, das noch in diesem Jahr kommen soll.
Lob für Orbans Außengrenzen-Schutz
Zudem forderte der frühere Außenminister eine verstärkte Sicherung der EU-Außengrenzen. In diesem Zusammenhang verteilte er Lob und Tadel für Viktor Orban. Der ungarische Ministerpräsident sei zwar „ein ganz schwieriger und auch anti-europäischer Politiker“. Andererseits praktiziere Orban auch eine strikte Kontrolle der ungarischen EU-Außengrenzen zu Serbien. Wer glaube, dass man an einer solchen Kontrolle der EU-Außengrenzen vorbeikomme, „der macht den Leuten etwas vor“, sagte Gabriel.