Gründer über 40 Jahre Grüne: „Für viele waren wir ein Kulturschock“
Grünen-Gründer Beckmann über die Partei seit 1980 - und Wahlkämpfe, in denen Petra Kelly Gedichte vortrug und Otto Schily am Flügel spielte. Ein Interview.
Lukas Beckmann war schon Bundesgeschäftsführer der Grünen, bevor sie im Januar 1980 in Karlsruhe als Partei gegründet wurden. Er organisierte den Europawahlkampf 1979, baute die Parteistrukturen auf, managte den Bundestagswahlkampf 1983, nach dem die Grünen erstmals auf Bundesebene ins Parlament einzogen. Von 1984 bis 1987 war er einer von drei Parteisprechern, später bereitete er die Gründung der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung vor. Nach der Wahl 1990 arbeitete er für die Bundestagsgruppe von Bündnis 90, von 1994 bis 2010 war er Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im Bundestag.
Herr Beckmann, Sie waren dabei, als die Grünen im Januar vor 40 Jahren in Karlsruhe gegründet wurden. Wie blicken Sie heute darauf zurück?
Das war ein historischer Moment. Mit der Gründung der Grünen hat die ökologische Frage die politisch-parlamentarische Bühne betreten.
Wie war das damals auf dem Parteitag?
Wir hatten uns für die Stadthalle in Karlsruhe entschieden, weil die bezahlbar war und in Baden-Württemberg lag. Ein paar Monate vorher waren wir in Bremen in die Bürgerschaft gewählt worden. Nun hofften wir, es auch in Baden-Württemberg in den Landtag zu schaffen. Eigentlich sollte der Gründungs-Parteitag Wahlkampfunterstützung sein. Das ist uns nicht wirklich gelungen. Der Parteitag war chaotisch und nicht sehr einladend.
Die Stadthalle war überfüllt, die Bühne wurde immer wieder von Störern besetzt…
Die Dramaturgie des Parteitags war auch dadurch bestimmt, dass es neben der Stadthalle, in der wir tagten, eine zweite kleinere Halle gab, in der rund 500 Menschen tagten – Teile des linken Spektrums und jene aus der außerparlamentarischen Bewegung – die eine Ur-Gründung forderten, bei der alle mitstimmen können und nicht nur die Mitglieder der Europa-Grünen. Sie trugen ihre Resolutionen mehrmals in den Parteitag hinein und forderten Stimmrecht.
Worüber haben Sie denn gestritten?
Unter anderem darüber, ob Doppel-Mitgliedschaften möglich sein sollten, etwa in den Parteien und Wahllisten, die die Grünen 1979 mitgegründet hatten oder ob Mitglieder in kommunistischen Parteien oder Vereinigungen parallel Mitglied bei uns sein können. Wir wollten einerseits unser politisches Spektrum erweitern. Uns war aber auch klar, dass wir die ideologischen Auseinandersetzungen der Nach-68er, die sich in den 70er Jahren an Universitäten und in Anti-AKW-Gruppen austobten, nicht in die Partei reinziehen durften. Es gab genügend Leute, die die Grünen für ihre Zwecke missbrauchen wollten. Für sie durfte es keinen Türöffner geben, um eine eigene Kraft entwickeln zu können.
Der frühere CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl eröffnete den Parteitag: „Niemand kann unseren Erfolg noch verhindern, es sei denn wir selbst“, sagte er. Wie groß war die Gefahr des Scheiterns?
Ich habe nicht gezweifelt, dass die Parteigründung am Ende gelingt. Aber ich habe einkalkuliert, dass es vielleicht nicht im ersten Anlauf klappt. Ich war erleichtert, als wir den Parteitag überstanden hatten.
Ein halbes Jahr zuvor, im Sommer 1979, waren die Grünen erstmals mit einer Liste bei der Europawahl angetreten, hatten es aber nicht ins Parlament geschafft.
Im März 1979 hatten wir für die Europawahl eine „Sonstige Politische Vereinigung“ gegründet. Wir nannten uns damals schon die Grünen, waren aber noch keine Partei nach deutschem Parteienrecht. Mit 3,2 Prozent schafften wir es zwar nicht ins EU-Parlament. Aber das Ergebnis war überraschend gut und Grundlage für den nächsten Schritt. Durch die Wahlkampfkostenrückerstattung bekamen wir 4,8 Millionen D-Mark. Das war das Startkapital, um die Partei aufzubauen.
Spitzenkandidatin bei der Europawahl war Petra Kelly, die dann auch eine der ersten Grünen-Sprecherinnen wurde. Wie haben Sie sie erlebt?
Sie war wahnsinnig charismatisch, eine Ausnahmepersönlichkeit. Sie war die Gründungsfigur der Grünen. Ohne sie wäre es schwer gewesen.
Als Bundesgeschäftsführer haben Sie die Partei aufgebaut. Wie haben Sie mit überschaubaren finanziellen Mitteln den Bundestagswahlkampf 1983 gestemmt?
Wir mussten kreativ sein. Petra Kelly hatte den Konzertveranstalter Fritz Rau kennengelernt. Mit ihm habe ich die „Grüne Raupe“ organisiert, eine Mischung aus Konzerten und Wahlkampfveranstaltungen. Wir haben zwölf große Hallen in ganz Deutschland angemietet. Dort sind Musiker aufgetreten wie Udo Lindenberg, Gianna Nannini, Joan Baez, Konstantin Wecker, Ina Deter, Wolfgang Niedecken und andere. Der Eintritt betrug 15 D-Mark. Unsere Kandidatinnen und Kandidaten wurden verpflichtet, kurze Reden zu halten und nicht zu langweilen. Petra Kelly hat Gedichte vorgetragen, Otto Schily am Flügel gespielt. Alle Hallen waren voll – in Dortmund 12.000 Leute, in Köln 9000. Wir spürten, dass die Zeit für die Grünen reif war. Und dennoch war es bei der Bundestagswahl mit 5,6 Prozent knapp, trotz starker Friedens- und Anti-Atom-Bewegung.
Als die Grünen damals in den Bundestag einzogen, war das für die anderen Parteien eine Provokation. Wie haben die reagiert?
Sehr unterschiedlich. Der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen von der CSU machte intern die klare Ansage, dass die Grünen jetzt dazu gehören und ihnen alle parlamentarischen Rechte zustehen. Vermutlich auch, weil er wusste, dass eine Menge Leute sich mit uns schwertaten. Für viele waren wir ein Kulturschock: die vielen Frauen, die andere Kleidung, die langen Haare, die Bärte. Manche Pförtner hatten regelrecht Angst. Sie kannten solche Typen nur als Bilder von Demonstrationen gegen Atomkraftwerke und Militärstützpunkte, immer in Verbindung mit der Polizei im Rücken. Denen waren wir nicht ganz geheuer. Aber das hat sich schnell gelegt. Nur im Parlament nicht. Da herrschte zum Teil eine eisige, gehässige und auch entwürdigende Stimmung. Als Waltraud Schoppe im Bundestag eine Rede hielt über Sexualität und Vergewaltigung in der Ehe, klopften sich viele Männer brüllend auf die Schenkel. Das war widerlich.
Was war für Sie der schönste Moment in 40 Jahren Grünen-Geschichte?
Der Wahlabend 1983, der Einzug in den Bundestag. Das war ein wahnsinnig emotionaler Moment.
Und was war der bitterste Moment?
Ich wäre 1993 wegen des Bosnien-Krieges beinahe aus der Partei ausgetreten. Dass die Grünen, die ein tragender Teil der Friedensbewegung waren, keine Sprache fanden gegen diesen in Europa neu ausbrechenden Nationalismus, damit habe ich mich sehr schwer getan. Ich war für eine militärische Intervention, obwohl ich aus einer gewaltfreien Tradition komme.
Mit welcher Begründung?
Damals hatte der Krieg schon mehr als 200.000 Tote gefordert, Frauen und Mädchen wurden in Lager eingesperrt und vergewaltigt. In Deutschland gab es viele Gastarbeiter auch aus Bosnien, ihre muslimischen Kinder waren erwachsen geworden in unserer Kultur und jetzt im Krieg, eine gute Flugstunde von uns entfernt. Jeden Abend die Bilder in den Nachrichten, und dennoch diese Sprachlosigkeit. Das war sehr irritierend für mich. Ich bin dann mit Freunden in das Kriegsgebiet nach Bosnien gefahren, wir haben uns ein Bild gemacht, mit Bürgermeistern, Kirchenleuten und Kriegsopfern gesprochen. Wieder zurück schrieb ich einen langen Brief an den Bundesvorstand und das Parteipräsidium mit der Bitte, diesen Krieg auf dem Vereinigungs-Parteitag von Bündnis 90 und den Grünen in Leipzig wenigstens zu thematisieren, den Opfern dieses Krieges eine Stimme zu geben. Aber davor sind wir zurückgeschreckt auch aus Angst, dass uns dies überfordert und uns der eigene Laden um die Ohren fliegt. Fünf Monate später gab es dann zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien einen Sonderparteitag in Bonn.
Sie haben schon 1987 für Koalitionen mit der CDU geworben und sich in der Partei damit Feinde gemacht. Damals war Helmut Kohl noch Bundeskanzler. Glauben Sie tatsächlich, dass eine Zusammenarbeit möglich gewesen wäre?
Wir waren noch nicht so weit, auch die CDU nicht, und auch nicht die Gesellschaft. Trotzdem war es wichtig, dass wir uns grundsätzlich für solche Koalitionen öffnen und zusätzliche Optionen ins Gespräch bringen. Wir sind zu lange davon ausgegangen, die ökologische Frage auch ohne Zusammenarbeit mit denen lösen zu können, die erst noch überzeugt werden müssen. Das konnte aber nicht funktionieren.
Mittlerweile sind die Grünen offen für unterschiedlichste Koalitionen. Kritiker sagen, die Partei sei angepasster, langweiliger, beliebiger geworden. Trifft das zu?
Wir sind öfter zu schnell zurückgeschreckt, sind vorsichtiger geworden, zu wenig radikal in der Ursachenanalyse. Aber es wäre schrecklich, hätten wir uns nicht verändert, während die Welt im ökologischen Zeitalter neu zusammen finden muss. Der Vorwurf, zu angepasst zu sein, kommt eher von Menschen, denen eine reine Lehre wichtig ist. Das ist legitim, aber ihr Aufenthaltsort muss auch stimmen. Parteien sind keine Glaubensgemeinschaften. In einer Demokratie muss man aus Überzeugung mit Haltung für Mehrheiten kämpfen.
Wie haben die Grünen sich verändert?
Wir haben verstanden, dass wir ohne die Kreativität der Menschen, die Unterstützung der Gesellschaft und eine Mehrheit mit anderen Parteien das Rad der Selbstzerstörung der Menschheit nicht werden anhalten können. Auch das Verhältnis zu staatlichen Institutionen hat sich verändert. Früher haben viele von uns Grundrechte, Bürgerrechte und Menschenrechte eher gegen den Staat verteidigt als mit ihm. Der unterschiedliche Blick auf Institutionen war übrigens auch eine der Stellen, bei denen es in der Kommunikation mit Bündnis 90 knirschte.
Inwiefern?
Eine Kritik am Staat, auch am westlichen System, war auch unseren Freunden aus der Bürgerbewegung in der DDR nicht fremd. Aber dass wir die Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung und der politischen Betätigung im Westen teilweise so geringschätzten und viele so taten, als würden wir täglich von der Polizei verfolgt, fanden sie zu Recht merkwürdig.
Im Wahlkampf 1990 plakatierten die Grünen: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ und flogen aus dem Bundestag. Bündnis 90 zogen ins Parlament ein. Was hat die Partei daraus gelernt?
Dass man weder lebens- noch weltfern werden darf, sondern eine Verpflichtung hat, sich anschlussfähig zu halten. Die Partei war Ende der 80er Jahre schwer erkrankt. Es fehlte Empathie für das, was unsere Freunde und Nachbarn im Osten erlebten und erlitten und eine Wertschätzung von Freiheit und ein Sinn für die neuen Aufgaben, die jetzt aufschienen. Ich konnte die Grünen 1990 nicht wählen und habe sie auch nicht gewählt.
Warum?
Ich fand die Haltung zur deutschen Frage und damit auch zu Europa unmöglich. Aus Gesprächen mit Vertretern der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc und Charta 77, der Bürgerrechtsbewegung der Tschechoslowakei, wusste ich, welche Bedeutung die deutsche Frage für die Ost- und Mitteleuropäer hatte. Ihr Blick auf die Überwindung der Diktatur im eigenen Land ging einher mit einem europäischen Blick auf die Überwindung der deutschen Teilung. Auch die Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung von Bündnis 90 waren damals politisch reifer als wir, weil sie in einer Diktatur gelebt hatten und Repressionen aus eigenem Erleben kannten. 1990 bin ich am Wahlabend nach Berlin geflogen und habe gehofft, mit Bündnis 90 feiern zu können. So kam es dann ja auch.
Nach der Wahl 1990 wurden Sie als West-Grüner Geschäftsführer der Bundestagsgruppe von Bündnis 90.
Meine Aufgabe war die Organisation der Bundestagsgruppe. Aber es ging von Anfang an auch um die Frage, wie Bündnis 90 und die Grünen zusammen kommen. Werner Schulz hat diesen Weg zusammen mit anderen stark vorangetrieben. Es war klar, dass es bei der nächsten Wahl nicht nochmals zwei getrennte Wahlgebiete Ost und West geben würde. Wir konnten also nur gemeinsam bestehen. Und das Wahlergebnis von 1994 – 6,4 Prozent – hat dies verdeutlicht.
Wenn Sie sich heute die Klimademos anschauen, fühlen Sie sich dann an Ihre politische Jugend erinnert?
Die außerparlamentarische Bewegung der 70er und 80er Jahre war sehr stark von Feindbildern geprägt: Wir gegen alle anderen. Fridays for Future zielen auf die gesamte Gesellschaft. Die Bewegung spricht grundsätzlich alle an und versperrt allen den Ausweg für Ausreden, sie zielt nicht auf einzelne Parteien und gesellschaftliche Gruppen. Das ist für mich das Besondere, das Neue, das Kraftvolle und Überzeugende.
Die Grünen liegen seit Monaten stabil in den Umfragen bei 20 Prozent. Fürchten Sie sich vor dem nächsten Absturz?
Es ist kein Höhenflug, selbst wenn wir irgendwann ein paar Prozente verlieren sollten. Das gesellschaftliche Potenzial ist schon länger da. Aber wir waren als Partei nicht so weit. Wir hatten viele gute, sehr fähige Persönlichkeiten in führenden Funktionen, aber viel zu lange kein Kraftzentrum, das auf Dialog und Klarheit setzt, Orientierung bietet und dadurch Ressourcen der Gesellschaft freilegt. Die beiden Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck sprechen als Team eine öffnende und integrierende Sprache, sie schaffen eine neue Ernsthaftigkeit und beleben die Bedeutung von Politik für unsere Zukunft.
Die Grünen hätten es schon früher zur 20-Prozent-Partei bringen können?
Ja, sehr viel früher, das Potential war da. Schließlich ist es im März schon 40 Jahre her, dass die Grünen in Baden-Württemberg als Flächenland bei der Landtagswahl auf Anhieb 5,3 Prozent erreichten und in den Landtag einzogen.
Bei einem Parteikonvent vor einem halben Jahr haben Sie gesagt, die Grünen hätten das Zeug zum Kanzleramt.
Ja, das stimmt. Die Probleme zeigen, dass wir als Menschheit in der Wirklichkeit des ökologischen Zeitalters angekommen sind. Wir können mit einem den Aufgaben angemessenen Gestaltungswillen der Mehrheit unserer Gesellschaft federführend Orientierung bieten. Aus ökologischer Sicht wird die nächste Bundestagswahl entscheidender sein als alle davor. Aber das Ergebnis allein wird als Unterschied nicht reichen. Alle Parteien müssen ihr Verständnis von Politik machen überdenken und um Formate erweitern, die Parteiinteressen weniger Raum lässt und zur Vorbereitung von ordnungspolitischem Handeln auf Dialog und Beteiligung setzt von Menschen aus unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungswelten und Weltsichten. Auch wir brauchen Bürgerinnenräte nach irischem Vorbild.