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Abschied von der Minutenpflege. Die Hilfe für Pflegebedürftige soll sich künftig stärker nach dem individuellen Bedarf richten.
© picture alliance / dpa

Hermann Gröhes nächste Reform: Für Pflegebedürftige wird alles anders

Demenzkranke werden besser gestellt, die Minutenpflege soll endlich verschwinden. Gesundheitsminister Gröhe präsentiert sein Konzept für die zweite Stufe der Pflegereform.

Die Dimension des Vorhabens lässt sich schon zahlenmäßig erahnen: Durch die Pflegereform kommen rund eine halbe Million Menschen, die bisher trotz geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen leer ausgegangen sind, an Leistungen aus der Pflegeversicherung. So steht es im Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der dem Tagesspiegel vorliegt.

Von den Verbesserungen profitieren insbesondere Demenzkranke, die körperlich noch so fit sind, dass sie vom Medizinischen Dienst bisher trotz immensen Betreuungsbedarfs oft nicht als pflegebedürftig eingestuft wurden. Doch auch für die meisten anderen der gegenwärtig rund 2,71 Millionen Pflegebedürftigen bricht mit der lang angekündigten Reform, glaubt man den Ansagen, eine neue Pflegewelt an. Sie sollen künftig nicht mehr nur im Minutentakt versorgt, sondern – weit passgenauer – nach ihrem individuellen Bedarf.

Aus drei Pflegestufen werden fünf Pflegegrade

Das klingt so grundstürzend für das bisherige System, wie es gemeint ist. Der Gradmesser für künftige Pflegeansprüche soll, so postuliert der Minister, nicht mehr das körperliche Defizit der Bedürftigen sein, sondern die Beeinträchtigung ihrer Selbständigkeit.

Um dahin zu kommen, hat Gröhe zweierlei in die Wege geleitet. Er lässt den Begriff der Pflegebedürftigkeit von Wissenschaftlern komplett neu definieren. Und er ändert das Begutachtungssystem. Statt der bisherigen drei Pflegestufen wird es künftig fünf so genannte Pflegegrade geben. Entscheidend für die Gutachter ist dabei, wie „selbstbestimmt und selbstständig“ der Antragsteller noch leben kann.

Geprüft werden Mobilität und die Fähigkeit zur Selbstversorgung

Zugrunde liegen dieser Einschätzung künftig sechs Einzelbewertungen. Gemessen werden das Maß der Selbstversorgung und der Mobilität, die geistigen und kommunikativen Fähigkeiten sowie die Fähigkeit zu Alltagsgestaltung und sozialen Kontakte. Für jeden dieser Bereiche werden je nach Schwere der Beeinträchtigung Punkte vergeben. Die Gesamtzahl entscheidet dann über den Pflegegrad.

Da sich das bisherige Prüfsystem allein am zeitlichen Unterstützungsbedarf orientiert, ist ein Vergleich mit den neuen Pflegegraden schwierig. Klar ist, dass der künftige Pflegegrad 1 früher greift als die bisherige Pflegestufe 1. Ansonsten könne man davon ausgehen, heißt es in Regierungskreisen, dass sich die jeweilige Pflegestufe bei körperlich Beeinträchtigten um einen Grad, bei demenziell Erkrankten um zwei Grade nach oben verschiebt. Finanziell bedeutet das vor allem für die ambulant Gepflegten deutliche Leistungsverbesserungen. Erhielten Pflegebedürftige der Stufe 1 dort bisher 244 Euro als Geld- oder 468 Euro als Sachleistung, so bekommen sie künftig bereits im zweiten Pflegegrad 316 beziehungsweise 689 Euro pro Monat. Im Pflegegrad 3 sind es sogar 554 beziehungsweise 1296 Euro.

Heimbewohner bekommen weniger

Für Heimbewohner allerdings steigen die Leistungsbeträge nur in den oberen Pflegegraden. Wer anstelle der Pflegestufe 3 künftig dem Pflegegrad 4 zugeordnet wird, erhält 1775 statt 1612 Euro – im Pflegegrad 5 sind es 2005 Euro.

Beim Vergleich von der Pflegestufe 1 mit dem Pflegegrad 2 dagegen schmilzt der prognostizierte Leistungsbetrag für Heimbewohner von 1064 auf 770 Euro. Und wer im Heim statt der Pflegestufe 2 den Pflegegrad 3 erhält, bekommt nur noch 1262 anstelle der bisherigen 1330 Euro.

Bestandsschutz für alle bereits Pflegebedürftigen

Allerdings ist es erklärtes Ziel der Reformer, dass sich für die bereits Pflegebedürftigen nichts verschlechtert. Wer bisher schon Leistungen erhält, genießt daher „umfassenden Bestandsschutz“, wie es im Gesetzentwurf heißt – und dieser gilt sogar, wenn sich jemand in der Hoffnung auf eine Besserstellung eigens neu begutachten lässt und aufgrund dessen unerwarteterweise weniger erhalten würde.

Finanziert wird dieses Versprechen aus den Rücklagen der Pflegeversicherung. Schätzungen zufolge kostet es über die nächsten Jahre 4,4 Milliarden Euro.

Eigenanteil steigt künftig nicht mehr mit dem Bedarf

Dafür gibt es für die Pflegebedürftigen der Zukunft ebenfalls eine Garanite. Ihr Eigenanteil im Heim wird künftig, so versprechen die Gesetzesmacher, auch bei stärkerer Pflegebedürftigkeit nicht mehr steigen. Bisher zahlen Heimbewohner abhängig von ihrer Pflegestufe und dem jeweiligen Heimbetreiber im Schnitt 460 bis 900 Euro aus eigener Tasche. Künftig soll der Eigenanteil für alle Bewohner ein und desselben Heimes gleich sein und bei durchschnittlich 580 Euro im Monat liegen. Allerdings bezieht sich das ausschließlich auf die Pflegekosten. Der Anteil für Verpflegung und Unterkunft kommt für die Heimbewohner noch obendrauf.

Den Plänen zufolge sollen Pflegebedürftige, die bereits Leistungen beziehen, ohne weitere Begutachtung ins neue System wechseln. Wer noch nach dem alten Verfahren eingestuft werden will, muss seinen Antrag bis Ende 2016 gestellt haben. Damit das parlamentarische Verfahren den ehrgeizigen Zeitplan nicht zunichte macht, soll der Entwurf bereits im August das Kabinett passieren. Begutachter und Heime benötigen dann noch ein gutes Jahr zur Verwirklichung der neuen Pflegewelt.

Beitragserhöhung Anfang 2017

Finanziert wird die Großreform über eine neuerliche Beitragserhöhung. Nachdem der Satz bereits Anfang des Jahres um 0,3 Punkte heraufgefahren wurde, soll er zum Januar 2017 um weitere 0,2 Punkte steigen. Er liegt dann bei 2,55 Prozent, Kinderlose zahlen 2,8 Prozent . Insgesamt beschert die Koalition der Pflegeversicherung auf diese Weise jährlich fünf Milliarden Euro mehr – eine Steigerung um 20 Prozent.

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