Studie: Für Katholiken ist die Kirche nicht mehr heilig
Ihren Pfarrer vor Ort nehmen viele Kirchenmitglieder in Schutz, prangern aber massiv die „weltfremde, reaktionäre und obstruktive Kirchenleitung“ an. Laut einer Studie sehen Katholiken die Glaubwürdigkeit der Kirchen nach den Missbrauchsfällen „massiv erschüttert“.
Nach Ansicht ihrer eigenen Mitglieder befindet sich die katholische Kirche in einer „desolaten Verfassung“. Vor allem die Missbrauchsfälle und die Unfähigkeit der Kirchenoberen, das Thema aufzuarbeiten, haben die Glaubwürdigkeit der Kirche „massiv“ erschüttert – gerade auch unter den treuesten Anhängern im konservativen Milieu. Die Empörung unter Katholiken über ihre Kirche ist in allen gesellschaftlichen Schichten groß. Man findet sich nicht mehr ab mit Missständen, sondern kritisiert sie offen. Das sind Ergebnisse der neuen Sinus-Milieu-Studie, die im Auftrag der katholischen Kirche untersucht hat, woran die eigenen Mitglieder glauben und wie sie die Kirche sehen.
Viele Katholiken nehmen ihren bemühten, wenn auch oft überarbeiteten Pfarrer vor Ort in Schutz, sie prangern aber massiv die „weltfremde, reaktionäre und obstruktive Kirchenleitung“ an sowie die "rückwärts gewandte" Kirchenpolitik von Papst Benedikt XVI., dem sie nicht selten einen „Roll back“ hinter das Zweite Vatikanische Konzil unterstellen. „Auf den deutschen Papst ist keiner mehr stolz“, sagte der Sozialwissenschaftler Marc Calmbach bei der Vorstellung der Studie am Donnerstag in München.
Die Sozialwissenschaftler des Heidelberger Sinus-Instituts teilen die deutsche Gesellschaft in zehn Milieus ein. Sie reichen von der prekären Unterschicht und den „traditionell“ orientierten Nachkriegsgenerationen im Arbeitermilieu über die bürgerliche Mitte bis hin zur ambitioniert-kreativen Avantgarde. Für die Studie über die Katholiken wurden hundert repräsentativ ausgewählte Kirchenmitglieder (je zehn aus zehn Milieus) im Sommer 2012 bis zu zwei Stunden lang interviewt.
Katholische Kirchenmitglieder finden sich noch in allen Schichten, aber besonders viele im traditionellen und etabliert- konservativen Milieu. Im Unterschied zur Vorgängerstudie von 2005 konnten die Forscher diesmal kein eindeutig „kirchenidentifiziertes“ Milieu mehr ausmachen. Auffällig ist auch, dass selbst unter den konservativen und treuen Anhängern kaum noch jemand nach den Dogmen der Kirche lebt. Nur noch unter älteren Kirchenmitgliedern im traditionellen Milieu gebe es „Reste einer dem katholischen Katechismus verpflichteten Lebensführung“. Die Sexualmoral der Kirche, die Lehrsätze zur Empfängnisverhütung, die Ächtung von Homosexuellen und Geschiedenen, die Diskriminierung von Frauen oder die Zölibatspflicht ist nicht mehr vermittelbar. Wenn die Kirche Menschen abweist, weil sie nicht nach der katholischen Lehre leben, empfinden das viele Katholiken mittlerweile als „unchristliches“ Verhalten.
Auch zentrale theologische Grundsätze wie die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung werden nur noch von wenigen wörtlich genommen. Viele basteln sich ihren Glauben individuell zusammen, dabei spielen katholische Traditionen eine Rolle, aber vermehrt auch fernöstliche Einflüsse. Es ist bunt geworden unter katholischen Kirchendächern.
Ein erschütterndes Ergebnis für die Bischöfe dürfte sein, dass arme, in prekären Umständen lebende Menschen in der katholischen Kirche nur noch als Objekte der Fürsorge vorkommen. Die Mildtätigkeit der katholischen Kirche werde von den Armen zudem oft als verletzend empfunden, sagte Calmbach. Etliche Interviewte hätten kritisiert, dass ihnen Sozialarbeiter oft respektlos begegneten, sie behandelten „wie beschädigte Sachen“. Der Wissenschaftler sagte weiter: „Da kann man verstehen, dass gerade diesen Menschen Statussymbole und Markenklamotten wichtiger sind als die Bibel.“
„Quer durch die Milieus sind sich die Befragten einig, dass die katholische Kirche in Deutschland, so wie sie ist, keinen Bestand haben wird“, so die Studie. Die Kirche soll sich verändern, aber die christliche Identität bewahren, fordert die Mehrheit der Katholiken. Zentrale Werte wie sie etwa in den zehn Geboten verankert sind, sollen nicht aufgegeben werden. Denn trotz massiver Kritik halten viele die Kirche nach wie vor für wichtig: als Korrektiv gegen eine neoliberale Wirtschaftsordnung, als Sozialpartner. Auch die Rituale will man nicht missen, ebenso wenig katholische Kindergärten und Schulen. Es habe ihn überrascht, sagte Calmbach, „wie wenig Austritte es gibt, verglichen mit der massiven Kritik“. Viele würden den letzten Schritt eben doch scheuen. Sein Fazit: „Es wird erst mal keine Reformation 2.0 geben.“
Die Forscher raten den Bischöfen, sich nicht abzuschotten und sich mehr nach außen zu vernetzen, um die Entfremdung auch zur eigenen Basis abzubauen. Die jungen Katholiken, die die Kirche immer seltener erreicht, wünschen sich: Stellt euren Jesus bitte nicht immer als „domestizierten Gutbürger“ dar. Jesus sei doch ein Revolutionär gewesen! Und die jungen Kreativen sagen: Wir sind gar nicht so ungläubig, wie ihr denkt.
Claudia Keller