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Tobias Zimmermann, 45, trat 2011 das Erbe von Klaus Mertes an. Der hatte im Januar 2010 in einem Brief an frühere Schüler die Missbrauchsfälle öffentlich gemacht. Am Canisius-Kolleg gab es bis in die 1980er Jahre sexuelle Gewalt gegen Jugendliche.
© Kitty Kleist-Heinrich

Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg: „Wir stehen noch ganz am Anfang“

Heute vor drei Jahren wurde öffentlich, dass am Canisius-Kolleg Patres ihre Schüler missbraucht hatten. Rektor Tobias Zimmermann spricht im Tagesspiegel-Interview über die schwierige Aufarbeitung und neue Auseinandersetzungen.

Pater Zimmermann, am Canisius-Kolleg nahm die Welle von Enthüllungen zum Thema Missbrauch seinen Anfang. Darüber wurde seitdem viel diskutiert. Hat sich das Bewusstsein von Eltern verändert?

Es gibt eine hohe Sensibilität. Wir laden regelmäßig Mitarbeiter von externen Beratungsstellen ein, damit die Schüler wissen, wohin sie sich in der Not wenden können. Bevor die Mitarbeiter kommen, veranstalten wir Elternabende. Da geht es manchmal hoch her, weil Eltern das Gefühl haben, sie werden unter Generalverdacht gestellt.

Gehen Sie heute mit Kindern anders um als vor vier Jahren?
Bei mir war der Einschnitt vor zehn Jahren, als Fälle in den USA bekannt wurden. Damals habe ich die Jugendarbeit am Canisius-Kolleg geleitet und mir viele Gedanken gemacht. Ich habe etwa versucht, eine Glastür in mein Büro einzubauen. Da kamen dann aber keine Schüler mehr, weil ratsuchende Jugendliche nicht auf dem Präsentierteller sitzen möchten.

Der Kriminologe Christian Pfeiffer sollte im Auftrag der Kirche die Personalakten der Bistümer zum Teil bis ins Jahr 1945 nach Spuren von Missbrauch untersuchen. Dieses Forschungsprojekt ist jetzt gescheitert. Warum tut sich die Kirche so schwer mit der Aufarbeitung?
Ich finde es unglaublich traurig und enttäuschend für die Opfer, dass das Projekt gescheitert ist und hoffe, dass die Studie weitergeführt wird. Die Kirche tut sich so schwer wie alle anderen Institutionen und Familien auch, die von Missbrauch betroffen sind. Auch der Jesuitenorden tut sich sehr schwer damit.

Müsste es Geistlichen nicht leicht fallen, Schuld einzugestehen? Christen glauben doch an die Vergebung der Sünden.
Wir sind in der Kirche immer noch zu stark vom Imagedenken geprägt. Es gibt auch ein ungutes Wechselspiel mit der Gesellschaft, weil wir Anwälte der Moral sein sollen. Ich frage mich, ob das gut ist. Denn dann fällt es umso schwerer, Fehler zuzugeben.

Wieweit ist das Thema Missbrauch im Jesuitenorden aufgearbeitet? 
Die Fälle am Canisius-Kolleg sind aufgeklärt. Jetzt müssen wir darüber sprechen, warum es so weit kommen konnte, dass Jugendliche missbraucht wurden. Welche Rolle hatte jeder einzelne von uns? Was hätte ich wissen können, wenn ich gefragt hätte? Da stehen wir ganz am Anfang. Auch weil sich manche Mitbrüder immer noch weigern, darüber zu sprechen.

Kann man sie nicht bearbeiten, bis sie doch reden?
Das geschieht auch. Aber das funktioniert nicht alleine über Druck. Außerdem betrifft das Mitwissen, das Zugeschauthaben alle. Wir haben auch nicht nur Täter in unseren Reihen, sondern auch Opfer und müssen alle weiter zusammenleben.

Ist das Verschweigen eine Frage der Generationen?
Natürlich fällt es den Älteren schwerer, überhaupt über Sexualität zu sprechen, oder über den Umgang mit Schmerz und Trauma. Aber es sind nicht nur Ältere, die einen Schlussstrich ziehen wollen.

Der Missbrauchsskandal ist für den Pater eine Erbsünde

Tobias Zimmermann, 45, trat 2011 das Erbe von Klaus Mertes an. Der hatte im Januar 2010 in einem Brief an frühere Schüler die Missbrauchsfälle öffentlich gemacht. Am Canisius-Kolleg gab es bis in die 1980er Jahre sexuelle Gewalt gegen Jugendliche.
Tobias Zimmermann, 45, trat 2011 das Erbe von Klaus Mertes an. Der hatte im Januar 2010 in einem Brief an frühere Schüler die Missbrauchsfälle öffentlich gemacht. Am Canisius-Kolleg gab es bis in die 1980er Jahre sexuelle Gewalt gegen Jugendliche.
© Kitty Kleist-Heinrich

Macht man sich auch Gedanken über die Priesterauswahl?
Natürlich. Da ist vieles wenig transparent. Wenn ich zum Beispiel Gutachten über junge Kollegen schreibe, bespreche ich das mit ihnen und sage ihnen, was ich denke. Das ist in den Regularien nicht vorgesehen. Der Orden ist wie ein barockes Staatssystem organisiert.

Fühlen Sie sich persönlich verantwortlich für das, was passiert ist?
Persönlich nicht. Aber es gibt die Erbsünde.

Die Erbsünde?
Erbsünde heißt für mich, dass jeder in bestimmte Umstände und Strukturen hineingeboren wird, die einen so deformieren, dass es Kraft braucht, um da herauszukommen. Zum Beispiel wird jeder gebürtige Deutsche in einen bestimmten historischen Kontext geboren, der prägt. Ich bin in den Orden hineinsozialisiert, und es ist ein Kraftakt zu verstehen, welche Strukturen meine Wahrnehmung geprägt haben; aber die muss man aufdecken, um so etwas wie Missbrauch zu verhindern.

Haben Sie schon eine Antwort?
Die zentrale Frage ist: Wie wird in der Kirche Macht ausgeübt? Lassen wir uns hinterfragen?

Hat sich da etwas verändert?
Noch in den 1980ern hatte jeder seinen Hofstaat und konnte machen, was er wollte. Heute arbeiten wir viel mehr mit Menschen von außerhalb zusammen. Es geht auch darum, das Leiden von Menschen an sich heranzulassen, ohne sie gleich in Schubladen einzuordnen.

In Köln wurde gerade eine vergewaltigte Frau von katholischen Krankenhäusern abgewiesen, weil die Ärzte fürchteten, im Gespräch mit ihr könnte es womöglich um Abtreibung gehen. Da wurde Leid ignoriert.
Dieser Vorfall ist ganz schrecklich. Dass Angst und Lehrsätze wichtiger werden als das konkrete Leid, das einem begegnet, das ist nun wirklich das absolute Gegenteil von dem, was Jesus Christus wollte.

Das Gespräch führte Claudia Keller

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