Sorgen vor russischem Nuklearangriff: Funktioniert die Rüstungskontrolle bei Atomwaffen noch?
Der russische Einmarsch in die Ukraine und Moskaus Drohungen stellen die Rüstungskontrolle bei Atomwaffen massiv infrage. Ein Experte gibt Antworten.
Anfang Januar 2022 einigten sich die fünf offiziellen Atomwaffenmächte auf ein bemerkenswertes Kommuniqué. Das Schriftstück machte Hoffnungen darauf, dass die Staats- und Regierungschefs in Russland, den USA, China, Frankreich und Großbritannien den Einsatz nuklearer Sprengköpfe vermeiden wollen. „Wir bekräftigen, dass ein nuklearer Krieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“, hieß es. Die fünf Staaten beteuerten sogar ihren Wunsch nach einer „Welt ohne Nuklearwaffen“.
Drei Monate später wirkt das Schriftstück wie aus einer anderen Welt. Der Angriffskrieg des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine und seine atomare Erpressung stellen das internationale System der nuklearen Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung vor eine Zerreißprobe.
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„Ein neues nukleares Wettrüsten ist eine reale Möglichkeit“, warnt Expertin Sarah Bidgood, Direktorin am James Martin Center for Nonproliferation Studies in Kalifornien im Magazin „Foreign Policy“. Der Westen müsse nun auf Russlands Provokationen Antworten finden, „ohne die Welt näher an den nuklearen Abgrund zu stoßen“.
Russland und die USA besitzen 90 Prozent der Atomwaffen
Doch die ständige Verschärfung der Konfrontation scheint genau Putins Strategie zu sein. Und genau dies wäre der Todesstoß für die noch bestehende nukleare Ordnung. Sie basiert auf dem Nichtverbreitungsvertrag von Atomwaffen, der Respektierung des umfassenden Testverbotsvertrags, der noch nicht in Kraft ist, sowie einem einzigen Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und Russland. Beide Rivalen verfügen dem Stockholmer Sipri-Institut zufolge über 90 Prozent der weltweit mehr als 13000 nuklearen Sprengköpfe.
Schon bevor Putin seine Truppen in die Ukraine schickte, zweifelten Fachleute an der Stabilität der nuklearen Ordnung. Sie befinde sich „in der Krise“, urteilte 2020 Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags 2021 brachte keine Wende zum Besseren. Dem Pakt traten bislang nur nukleare Habenichtse bei. Die Atomwaffenstaaten lehnen die Ächtung der Bombe in seltener Einmütigkeit ab.
Putin hat die Grundsätze einer Außenpolitik über Bord geworfen
Jetzt hat Putin mit seinen Drohungen und dem Einmarsch in das Nachbarland jedes Vertrauen im Westen verspielt. Somit rücken Verhandlungen zwischen Washington und Moskau über neue nukleare Rüstungskontrollverträge in weite Ferne. Zumindest solange der Kremlchef an der Macht ist. Eigentlich sei es im amerikanischen, aber auch im russischen Interesse, „Deckel auf den Strukturen der nuklearen Bewaffnung der Welt zu halten“, sagt Hans Kristensen, Direktor des Nuklear-Projekts bei der „Federation of American Scientists“. Doch Putin hat offensichtlich die Grundsätze einer Außenpolitik über Bord geworfen.
Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind wesentliche Elemente bei Verhandlungen, gerade wenn es um Atomwaffen geht. Die „Parteien müssen einander vertrauen, um im guten Glauben zu verhandeln, Abkommen zu unterzeichnen und Verträge zu implementieren“, sagt der russische Abrüstungsfachmann Petr Topychkanow.
Der einzige Rüstungskontrollvertrag zwischen Russland und den USA – das New- Start-Abkommen über Interkontinentalwaffen – läuft 2026 aus. Falls Moskau und Washington es nicht schaffen, die Vereinbarung zu erneuern, werden keine vertraglichen Grenzen für Entwicklung, Produktion und Stationierung von atomaren Massenvernichtungswaffen mehr existieren.
Dort, wo Russen und Amerikaner dürfen, investieren sie kräftig
Im Kern limitiert New-Start das strategische Nuklearwaffenarsenal der Russen und Amerikaner auf 1550 stationierte Sprengköpfe und 700 Trägersysteme. Zudem dürfen beide Länder über eine Reserve von 100 Trägersystemen verfügen. Andere bilaterale Abkommen über Nuklearwaffen sind bereits Geschichte. Für die beiden nuklearen Supermächte gilt also schon heute nur noch eine sehr beschränkte vertragliche Verpflichtung, Enthaltsamkeit bei der atomaren Rüstung zu üben.
Dort, wo Russen und Amerikaner dürfen, investieren sie kräftig. „Beide haben umfassende und teure Programme im Gange, um ihre nuklearen Sprengköpfe, Trägersysteme sowie Produktionseinrichtungen zu ersetzen und zu modernisieren“, schrieben die Sipri-Abrüstungsexperten bereits 2021. „Die Aussichten auf zusätzliche bilaterale nukleare Rüstungskontrolle zwischen den nuklearen Supermächten bleiben schlecht.“
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Schlecht sieht es auch auf multilateraler Ebene aus. Vor allem Moskaus unbewiesene Behauptung, die Ukraine wolle sich in den Besitz von Nuklearwaffen bringen, verursacht einen gewaltigen Kollateralschaden im System der Nichtverbreitung. Den Hintergrund bildet der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) aus dem Jahr 1968. Dieser erlaubt nur einem privilegierten Kreis – den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich – den Besitz von Atomwaffen.
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Im Gegenzug verpflichten sich die fünf Staaten zur vollständigen nuklearen Abrüstung – und übernehmen Verantwortung dafür, dass die Bombe nicht in den Besitz weiterer Länder gerät. Doch das System der Nichtverbreitung zerbröselt seit Jahren.
Drei Länder sind dem NVV nie beigetreten: Indien, Israel und Pakistan. Nordkorea erklärte seinen Austritt aus dem Pakt und legte ein Atomwaffenprogramm auf. Auch die internationalen Verhandlungen zur Eindämmung des iranischen Nuklearprojekts ziehen sich hin. Robert Malley, US-Sondergesandter für den Iran, sagte vor wenigen Tagen über eine mögliche anstehende Einigung: „Ich kann nicht zuversichtlich sein, dass es bevorsteht.“
Russland hat bei den Iran-Verhandlungen ein gewichtiges Wort mitzureden – ob es den USA und den anderen mitwirkenden westlichen Staaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien gefällt oder nicht. Putins atomares Muskelspiel gegenüber dem Westen dürfte auch die Führung in Teheran in ihrem langfristigen Streben nach einer nuklearen Bewaffnung bestärken. Ein hochgerüsteter Iran würde auch andere Staaten der Region dazu treiben, selbst nach der Bombe zu greifen.
Jan Dirk Herbermann