Macht ist, wo Atomwaffen sind?: Der Ukrainekrieg verkehrt die Logik der nuklearen Abrüstung
Moskaus Angriffskrieg hat das Zeug, immense Nachfrage nach Atomwaffen zu erzeugen. Weil klar wird, dass nur sicher ist, wer damit drohen kann. Ein Gastbeitrag.
- Andreas Umland und Hugo von Essen sind Analysten des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien am Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI).
In den frühen 1990er Jahren verfügte die gerade unabhängig gewordene Ukraine kurzzeitig über mehr Atomsprengköpfe als Großbritannien, Frankreich und China zusammen. Die Ukraine hatte von der UdSSR etwa 1900 strategische und circa 2500 taktische Atomwaffen geerbt, die auf sowjetukrainischem Gebiet stationiert waren. Vor dem Hintergrund der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 und im Geiste des geopolitischen Optimismus der ersten Jahre nach Ende des Kalten Krieges beschloss Kiew jedoch, dass die Ukraine vollständig und dauerhaft nuklearwaffenfrei wird.
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Freilich konnte die Ukraine ohnehin die meisten ihrer Atomsprengköpfe damals nicht einsetzen, da sich die Kommandozentralen noch in Moskau befanden. Aber sie hatte Spezialtechnologien, nukleares Material und das technische Knowhow geerbt, mit denen sie zu einem kleinen oder zumindest potenziellen Atomwaffenstaat hätte werden können.
Kiew hätte etwa eine Reserve an nuklearen Waffentechnologien und -materialien erhalten können. Unter dem Druck Moskaus, aber auch mit großzügiger Hilfe Washingtons, übergab Kiew jedoch sein gesamtes Atomarsenal an Russland. Die Ukraine unterzeichnete und ratifizierte den Atomwaffensperrvertrag (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag, NVV) Mitte der 1990er als ordentlicher Nichtkernwaffenstaat.
Die Zusicherungen an die Ukraine erwiesen sich als wertlos
Im Gegenzug zur vollständigen Denuklearisierung erklärten sich Washington, Moskau und London bereit, Kiew besondere Sicherheitszusagen zu machen. Auf einem Gipfeltreffen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – dem Vorläufer der heutigen OSZE – im Dezember 1994 unterzeichneten die vier Länder das Budapester Memorandum, benannt nach der Stadt, in der der Gipfel stattfand.
In diesem Dokument sicherten die USA, Großbritannien und Russland (als Rechtsnachfolger der Sowjetunion) der Ukraine ihre Souveränität, die Sicherheit ihres Territoriums und die Freiheit von wirtschaftlichem und politischem Druck zu.
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Die beiden anderen offiziellen Atomwaffenstaaten unter dem NVV, China und Frankreich, folgten diesem Beispiel und überreichten der Ukraine separate Regierungserklärungen, in denen sie ihre Achtung vor dem Staat und den Grenzen der Ukraine zum Ausdruck brachten. Ähnliche schriftliche Zusagen wurden Belarus und Kasachstan gemacht. Minsk und Almaty (inzwischen Astana) traten ebenfalls dem NVV bei und übergaben auch ihre Sprengköpfe und Nuklearmunition an Russland.
Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine seit 2014 ist eine Bedrohung für die künftige Integrität des NVV und somit gesamte globale Sicherheitsordnung, deren Grundpfeiler er ist. Indem Russland so offensichtlich gegen die Logik des Nichtverbreitungsregimes verstößt, hat es das weltweite Vertrauen in die Weisheit einer Atomwaffenabstinenz erschüttert.
Kernsprengköpfe als verlässlicher Selbstschutz
Moskau schwächt seit acht Jahren den Willen einzelner Staaten, den NVV zu befolgen und erhöht die Versuchung von Regierungen Kernsprengköpfe zum Selbstschutz zu erwerben. Russlands Angriffe auf die Ukraine seit 2014 und deren schrittweise Zerstückelung untergraben die Sicherheit aller.
Der Atomwaffensperrvertrag wurde 1968 gegründet und trat 1970 in Kraft. Er wurde von 191 Ländern unterzeichnet und ratifiziert, d.h. von mehr Staaten als jedes andere Rüstungskontrollabkommen. Ein Ziel des Vertrags ist es, die Verbreitung von Nuklearwaffen zu verhindern und auf eine vollständige atomare Abrüstung hinzuarbeiten. Er wurde 1995 auf unbestimmte Zeit verlängert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der erfolgreichen Denuklearisierung der Ukraine, Belarus’ und Kasachstans.
Mit den verschiedenen offen militärischen sowie para- und nichtmilitärischen Angriffen auf die Ukraine in den vergangen acht Jahren, der Einnahme und Annexion ukrainischen Territoriums 2014–2015 sowie der seit Februar 2022 laufenden Großinvasion hat der Kreml die Logik des Nichtverbreitungsregimes auf den Kopf gestellt. Die Budapester Sicherheitszusagen aller fünf NVV-Kernwaffenstaaten – sie sind auch die stärksten konventionellen Militärmächte der Welt – für die Ukraine waren offensichtlich wertlos.
Vielmehr sieht es nun so aus, als ob der Zweck des NVV darin besteht, Atommächten die Möglichkeit zu geben, ihr Territorium relativ risikofrei zu erweitern. Nuklearwaffenstaaten können das Territorium und die Souveränität militärisch schwächerer Nationen verletzen, die naiverweise an das Völkerrecht glauben und den NVV als Nichtatomwaffenländer unterzeichnet haben.
Mittelmächte können drei Lektionen lernen
Russland war in der Lage, die Ukraine umstandslos anzugreifen, weil diese kein Atomwaffenstaat ist. Die Ukraine verfügt nicht nur nicht über Massenvernichtungswaffen, um einen Angriff abzuschrecken. Es ist Kiew auch durch den Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich untersagt, Nuklearsprengköpfe und -munition zu erwerben. Wäre die Ukraine eine Atommacht, hätten Putin und seine Militärs es sich zweimal überlegt, ihre Invasion starten.
Rund um die Welt können Mittelmächte, die nicht durch größere Bündnisse wie die NATO geschützt sind, drei einfache Lektionen aus diesen Umständen lernen. Erstens: Es ist in jedem Fall gut Atomwaffen zu haben - ob man nun Pläne für das Territorium eines anderen Landes hat oder um einen Angriff auf das eigene Territorium abzuschrecken. Zweitens: Es ist nicht gut, wie die Ukraine, solche Waffen, wenn man sie einmal hat, je wieder abzugeben. Drittens ist es wenig sinnvoll, sich auf Verträge, Memoranden, Zusicherungen und vertragliche Erklärungen zu verlassen – selbst wenn sie vollständig ratifiziert und rechtsverbindlich sind und von den Regierungen der mächtigsten Länder der Welt unterstützt werden.
Andreas Umland, Hugo von Essen