Studie zu Erfahrungen in der Altenpflege: Frustration an der Corona-Front
Hohe Sterberaten, enorm viele Erkrankungen: Eine Studie schildert Corona-Erfahrungen von Altenpflegekräften aus neun Ländern. Und fordert Konsequenzen.
Die Corona-Pandemie hat die Länder weltweit in unterschiedlicher Weise getroffen. Doch es gibt eine Gemeinsamkeit: Unter dem Virus litten ältere Menschen und insbesondere die Pflegebedürftigen am stärksten. Länder wie Schweden, Großbritannien oder Spanien kamen auf gewaltige Sterberaten in Altenpflegeheimen, besonders während der ersten Welle der Pandemie. Und das International Long-Term Care Policy Network (ilpn) schätzte im Oktober 2020, dass 46 Prozent aller Corona-Todesopfer Pflegeheim-Bewohner:innen waren.
Grund genug, sich die Frage zu stellen, was schief gelaufen ist beim Umgang mit der Pandemie im Altenpflegesektor und welche Lehren daraus zu ziehen sind. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass sich die Defizite in der Altenpflege – wie etwa prekäre Arbeitsbedingungen, Unterbesetzung und Unterfinanzierung – „verheerend auf die Fähigkeit ausgewirkt haben, die Schwächsten in der Coronavirus-Pandemie, sprich die Älteren, zu schützen“, heißt es in einem Bericht, der unter dem Titel „An der Corona-Front“ erstmals die Erfahrungen von Altenpflegekräften in neun europäischen Ländern zusammenfasst: Dänemark, England, Finnland, Deutschland, Norwegen, Portugal, Schottland, Spanien und Schweden. Die Studie in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung wird heute Nachmittag veröffentlicht, sie liegt dem Tagesspiegel Background bereits vor. Die Autorin, Lisa Pelling, ist eine schwedische Politikwissenschaftlerin und Leiterin des in Stockholm ansässigen unabhängigen progressiven Thinktanks Arena Idé. Ausführlichere Länderberichte liegen bereits vor oder sollen noch folgen.
Schlechte Arbeitsbedingungen verschärften das Problem
Pellings Grundthese: Das Versagen beim Eindämmen der Coronavirus-Ausbreitung im Altenpflegesektor ist „symptomatisch für die Nichtbeachtung“, unter welcher der Sektor bereits vor der Covid-19-Ausbreitung Anfang 2020 in ganz Europa gelitten habe. Obwohl von Anfang an klar gewesen sei, dass hohes Alter ein immenses Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei Covid-19 darstellt, hätten die meisten Länder zunächst nur mit Besuchsverboten in den Heimen reagiert. Und trotz der Identifizierung von Heimbewohnern als eine der anfälligsten Bevölkerungsgruppen habe es auch auch das European Centre For Disease Prevention (ECDC) „weitestgehend versäumt, spezielle Empfehlungen darüber abzugeben, wie die Ausbreitung des Coronavirus in den und im Altenpflegesektor verhindert werden kann“.
Dazu kam aus der Sicht der Expertin: Die Pandemie habe einen „unterfinanzierten, unterbesetzten und unterbewerteten Sektor“ getroffen, der an den Folgen „jahrzehntelanger Fragmentierung, Kommodifizierung und Privatisierung“ leide. „Jahre der Sparpolitik und des neoliberalen New Public Managements haben das Privatisierungs- und Prekarisierungsniveau erhöht, als zeitgleich der gewerkschaftliche Organisationsgrad zurückging“, schreibt sie. Und in allen neun Berichten für das Projekt sei offenkundig geworden, dass die Pandemie „die bereits schlechten Arbeitsbedingungen der Altenpflegekräfte weiter verschlechtert“ habe. Zu oft hätten sie an unterbesetzten Arbeitsplätzen weiterarbeiten müssen, „wodurch auch noch Überstunden zu der bereits untragbaren Arbeitsbelastung hinzukamen“. In allen untersuchten Ländern litten die Altenpfleger:innen „unter erhöhtem körperlichem und psychischem Druck, was mitunter zu Depressionen und Drogenmissbrauch führte“. Und trotz ihrer Überstunden hätten viele von ihnen „kein angemessenes Krankengeld erhalten“.
Dabei seien Altenpflegekräfte dem Coronavirus weit stärker als andere Berufsgruppen ausgesetzt gewesen, betont die Studienautorin. In Deutschland beispielsweise sei die Zahl der Covid-19-Fälle unter Fachkräften in der häuslichen Altenpflege doppelt so hoch gewesen wie in der durchschnittlichen Bevölkerung, und die Covid-19-Rate unter Beschäftigten in Pflegeheimen sogar sechsmal höher. Und in Portugal sei „ungefähr ein Drittel der mit Covid-19 verbundenen Krankmeldungen auf das Konto von Beschäftigten in Altenpflegeheimen“ gegangen. Gleichzeitig sei in vielen Ländern aber die Präsenzpflicht ein Problem gewesen, „weil Altenpflegekräfte sich gezwungen fühlten, zur Arbeit zu gehen, obwohl sie Symptome einer Infektion zeigten“.
Fehlende Testmöglichkeiten und Richtlinien-Wirrwarr
Ein großes Problem für die Beschäftigten des Altenpflegesektors war in diesem Zusammenhang das Fehlen von persönlicher Schutzausrüstung (PSA). In einigen Ländern, so heißt es in dem Bericht, hätten Altenpflegekräfte ihre eigene PSA kaufen und aus eigener Tasche bezahlen müssen. Laut Amnesty International kam es seit Juli 2020 im Altenpflegesektor von 31 Ländern wegen fehlender PSA zu Streiks, Streik-Androhungen oder anderweitigen Protesten.
Auch der Mangel an Testmöglichkeiten habe sich in allen untersuchten Ländern als „riesiges Problem für Beschäftigte im Altenpflegesektor“ erwiesen. Im Vereinigten Königreich seien Probleme beim Testsystem als „Hauptversagen der Regierung im Umgang mit der Pandemie“ bezeichnet worden. Als positives Beispiel dagegen wird Dänemark genannt, wo Gewerkschaften es geschafft hätten, „eine trilaterale Vereinbarung zur Teststrategie zu verhandeln“ – obgleich sich diese in der Umsetzung dann als nicht so erfolgreich erwiesen habe wie erhofft. Und in Portugal sei ein nationales Screening-Programm in Zusammenarbeit mit Forschungszentren gestartet worden, das 117.000 präventive Covid-19-Tests unter Beschäftigten in Altenpflegeeinrichtungen ermöglicht habe.
Als die PSA schließlich zur Verfügung stand, sei deren Qualität – und unzureichende Richtlinien dazu, wie und wann diese zu benutzen sei – dann „eine Hauptsorge für Altenpfleger:innen in allen neun Ländern“ gewesen, berichtet die Forscherin. Und in Dänemark sei es nach wie vor „die größte Herausforderung, dass sich die Richtlinien ständig ändern“. Bis Oktober 2020 sei das bei den Covid-19-Richtlinien im Gesundheitswesen allein 21 Mal geschehen, bei den PSA-Richtlinien viermal.
Kampf um Lohnfortzahlung und Krankengeld
Eine der Forderungen in Pellings Bericht lautet deshalb, Altenpfleger:innen aufgrund ihrer Arbeit mit besonders vulnerablen Personengruppen ein Mitspracherecht bei der Entwicklung und Kommunikation von Sicherheitsrichtlinien zu geben. Eine andere, auf Gesundheits- und Sicherheitsinspektionen aller Arbeitsplätze zu bestehen. In Dänemark und auch in Spanien sei das Bestehen auf entsprechenden Kontrollen eines der wichtigsten Gewerkschaftsthemen gewesen, heißt es in der Studie.
Ein anderes, ebenfalls alle Länder betreffendes Problem, ist der finanzielle Ausgleich bei Erkrankung. „Alle Altenpflegekräfte sollten das Recht auf angemessenes Krankengeld haben“, lautet die Forderung der Studienautorin. Schließlich seien das Zuhausebleiben im Fall einer Covid-19-Infektion überall eine „zentrale Strategie“ gewesen, um die Ausbreitung des Virus zu minimieren. Tatsächlich aber hätten Altenpflegekräfte in ganz Europa um ihr Krankengeld kämpfen müssen. Auch in Deutschland, so heißt es in dem Bericht, hätten Gewerkschaften auf die Situation geringfügig beschäftigter Altenpflegekräfte hingewiesen, die trotz erhöhten Infektionsrisikos durch ihren Job nur für die ersten sechs Wochen ihrer Erkrankung eine Lohnfortzahlung erhielten. Zudem hätten sie keinen Anspruch auf Kündigungs- oder Arbeitslosengeld, wenn Einrichtungen geschlossen oder der Bedarf an häuslicher Altenpflege reduziert werde.
Es gebe Hinweise darauf, dass die Länder mit den niedrigsten Sterberaten die großzügigsten Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall leisten, heißt es in der Studie. Norwegen sei dafür ein Beispiel: Dort wären bis Februar 2021 bei einer Bevölkerungszahl von fünf Millionen weniger als 600 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet worden. In Norwegen erhalten Beschäftigte im kompletten ersten Krankheitsjahr 100 Prozent Krankengeld. Schwedische Beschäftigte dagegen bekämen im Normalfall am ersten Tag gar kein Geld, und ab dem zweiten Tag weniger als 70 Prozent ihres Lohnes.
Befristete Verträge und Mehrfachbeschäftigung als Risiko
Eine weitere Forderung der Studie lautet, Covid-19 bei Altenpflegekräften als Berufskrankheit anzuerkennen. In Norwegen und Dänemark sei dies bereits erreicht worden. Und in Schottland seien Gewerkschaften maßgeblich daran beteiligt gewesen, die Regierung zu einer Einmalzahlung von 60.000 britischen Pfund an einen benannten Hinterbliebenen zu zwingen, wenn Altenpflegekräfte an Corona sterben und ihre Angehörigen nicht anderweitig abgesichert sind.
Ansonsten fordert der Expertenbericht vor allem Personalaufstockungen. „Nicht ausreichende Personalbestände haben dazu beigetragen, dass sich Altenpfleger:innen gezwungen fühlten, auch mit Covid-19-Symptomen zur Arbeit zu gehen“, heißt es darin. Und auch die „Prekarisierung“ der Arbeitsbedingungen von Altenpflegekräften müsse ein Ende haben. Unsicherheit und niedrige Löhne führten zu Mehrfachbeschäftigung und verstärkten so die Verbreitung der Viren in Pflegeheimen, konstatierte der portugiesische Gewerkschaftsbund CGTP-IN. Und die schwedische Gewerkschaft Kommunal stellte fest, dass Pflegeheime mit Covid-19-Ausbrüchen einen höheren Anteil an Beschäftigten aufwiesen, die nur nach Stundenlohn bezahlt wurden. Damit sich die Krankheitsausbrüche nicht ausbreiteten, sei es „sehr wichtig, dass Altenpflegekräfte vermehrt unbefristete Verträge bekommen und in einer einzigen Einrichtung in Vollzeit beschäftigt sind“, so Pelling.
Die spannende Frage, ob und inwieweit sich die zunehmende Privatisierung in der Altenpflege auf die Verbreitung von Covid-19 ausgewirkt hat, bleibt indessen ungeklärt. Die Studie verweist zwar auf die Beobachtung des gemeinnützigen Thinktanks Corporate Europe Observatory (CEO), wonach die Privatisierung von Gesundheits- und Langzeitpflege „für Europa eine schlechte Ausgangsbasis für die Pandemie geschaffen“ habe. Und die Studienautorin meint auch, dass die Privatisierung „tendenziell zu einer größeren Fragmentierung des Sektors führt und damit eine rasche und koordinierte Reaktion auf die Pandemie schwieriger macht“. Allerdings sei eine Auswertung von Altenpflegediensten in Schweden zwischen 1990 und 2009 auch zu dem Schluss gekommen, „dass Kommunen, die durch die Öffnung für private Anbieter:innen eine verstärkte Konkurrenz einführten, eine niedrigere Sterblichkeitsrate aufwiesen“. Die verfügbaren Forschungsergebnisse zeigten hier „in verschiedene Richtungen“, so das Resümee.