Nach der Amokfahrt von Nizza: Frankreich ruft alle Patrioten zum Polizeidienst auf
Nach dem Attentat von Nizza setzt die Regierung auf die Solidarität der Bürger. Die Zahl der Verletzten wurde derweil von 200 auf 303 korrigiert.
Nach der Amokfahrt von Nizza, bei der am Donnerstag mindestens 84 Menschen getötet worden waren, hat Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve alle patriotischen Franzosen zum freiwilligen Polizeidienst aufgerufen. Jeder, der wolle, könne sich dieser operativen Reserve anschließen, sagte Cazeneuve am Samstag. Derzeit besteht die Truppe aus 12.000 Freiwilligen, die sich aus der nationalen Gendarmerie und der Polizei rekrutieren. Auf diese Truppe, die schnell mobilisierbar sei, könnten die Präfekten je nach Ereignissen und zur Sicherung von Orten und Veranstaltungen zurückgreifen.
Cazeneuve geht davon aus, dass sich der Täter erst in jüngster Zeit radikalisiert hat. Es habe den Anschein, dass sich der 31-jährige Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der am Donnerstag Dutzende Menschen getötet hatte, "sehr schnell radikalisiert" habe, sagte Cazeneuve am Samstag nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats unter Vorsitz von Staatschef François Hollande. Dies geht offenbar aus den Vernehmungen der Ermittler hervor. Am Samstag befanden sich vier Männer aus dem Umfeld des 31-Jährigen in Polizeigewahrsam; auch die Ex-Frau des Täters wird weiter verhört.
Cazeneuve betonte noch einmal, dass Lahouaiej-Bouhlel nicht unter einer Überwachung der Geheimdienste gestanden habe. Gleichzeitig wies er aber darauf hin, dass auch isolierte Einzeltäter, die für die Propaganda der Terrormiliz "Islamischer Staat" empfänglich seien, extreme Gewalttaten verüben könnten, ohne vorher dafür von den Dschihadisten ausgebildet worden zu sein.
Die Zeitung „Le Monde“ berichtete indes, dass die Ermittler bislang noch keine Verbindung des Amokfahrers zum Dschihadismus feststellen konnten. Fest steht indes, dass es sich bei der Amokfahrt um eine wohlüberlegte Tat handelte: Der Tunesier hatte den Kühllastwagen, der am Abend des Nationalfeiertages auf der Strandpromenade von Nizza zum Mordwerkzeug wurde, bereits am 11. Juli gemietet. Mit dem 19-Tonner verschaffte er sich unter dem Vorwand, Eis zu liefern, Zugang zur Strandpromenade.
Amokfahrer litt nach Angaben des Vaters an einer Depression
Zuvor hatte der Vater von Mohamed Lahouaiej-Bouhlel erklärt, dass sein Sohn zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts an einer Depression gelitten habe. Nach seinen Angaben sei sein Sohn nicht religiös gewesen. Dagegen war Lahouaiej-Bouhlel als gewalttätig bekannt. Seine Frau reichte die Scheidung ein, nachdem sie von ihrem Mann misshandelt worden war. Die Zeitung „Nice-Matin“ berichtete unter Berufung auf das persönliche Umfeld von Lahouaiej-Bouhlel, dass der Vater dreier Kinder die Stofftiere seines Nachwuchses zerschnitten habe.
Wie das französische Gesundheitsministerium am Samstag mitteilte, hat es bei dem Anschlag in Nizza 303 Verletzte gegeben. Rund 100 Menschen sind mit ihren Verwundungen erst ab Freitag in die Krankenhäuser in Nizza und Umgebung gekommen. Zunächst war von etwa 200 Verletzten berichtet worden. Insgesamt befanden sich nach diesen Angaben noch 121 Menschen in Krankenhäusern, 26 von ihnen schwebten in Lebensgefahr, darunter fünf Kinder.
Am Samstag teilte die Nachrichtenagentur Amak mit, dass Lahouaiej-Bouhlel ein Soldat der Terormiliz "Islamischer Staat" (IS) gewesen sei. Allerdings ließ sich die Erklärung der Agentur, die dem IS nahesteht, zunächst nicht unabhängig verifizieren. Auch wäre es nicht untypisch, wenn der IS zu Propagandazwecken die Tat in jedem Fall für sich reklamieren würde – selbst falls der Täter keinen islamistischen Hintergrund gehabt haben sollte.
Hollande legte sich schon früh fest und sprach von einem Terrorakt
Trotz des Rätselratens um die Motive des 31-jährigen Tunesiers hatte Frankreichs Präsident Hollande unmittelbar nach der Amokfahrt schon in der Nacht zum Freitag erklärt, dass der terroristische Charakter des Angriffs „nicht bestritten“ werden könne. Zudem hatte Hollande angekündigt, das Vorgehen gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien und im Irak zu „verstärken“.
Valls gilt als strikter Kopftuch-Gegner
Dass sich auch Hollandes Premierminister Manuel Valls relativ früh angesichts der Motivlage des Täters festlegte und bereits am Freitagabend erklärte, der Täter habe "in der einen oder anderen Form" Kontakt zum radikalen Islam gehabt, kommt für politische Beobachter nicht ganz überraschend. Valls gilt innerhalb der Regierung als Hardliner, der einen politischen Kampf für den Laizismus austrägt und insbesondere gegen das Kopftuch zu Felde zieht. Im vergangenen Frühjahr hatte Valls nicht ausgeschlossen, dass das an französischen Schulen geltende Kopftuchverbot auf Universitäten ausgeweitet werden könnte – und erhielt dabei von Hollande allerdings eine Abfuhr.
Der Streit um das richtige Maß des Laizismus, den Kritiker als Vehikel der Islamfeindlichkeit sehen, dürfte auch in den kommenden Monaten im Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle spielen. Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der als möglicher Präsidentschaftsanwärter gilt, distanzierte sich jüngst von der harten Linie Valls'. Macron wandte sich gegen eine gesetzliche Neuregelung, mit deren Hilfe nach seinen Worten „Jagd auf das Kopftuch an Universitäten“ gemacht werden könnte. Im April und Mai des kommenden Jahres finden die beiden Runden der Präsidentschaftswahl statt. Der gegenwärtige Amtsinhaber Hollande will erst am Ende dieses Jahres offiziell bekanntgeben, ob er noch einmal antritt.