Ausstieg aus den Corona-Beschränkungen: Forscherteam legt Plan für Ende des Stillstands vor
Es gibt erste Hoffnung auf eine Lockerung der Corona-Maßnahmen. Wo könnten sie beginnen? Eine Gruppe von Wissenschaftlern macht Vorschläge.
Lothar Wieler sieht Hoffnungszeichen. Seit einigen Tagen, berichtet der Chef des Robert-Koch-Instituts, stecke ein Corona-Infizierter im Schnitt nur noch einen weiteren an – und nicht mehr fünf bis sieben. Das zeigt: Der Lockdown wirkt. Ist jetzt früher mit Lockerungen der Beschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu rechnen?
Zur Entwarnung, betont Wieler, sei es noch zu früh. Die Ansteckungsquote, die ein analoges Maß zur Verdopplungszeit der Infektionsfälle ist, muss weiter sinken: deutlich unter eine Neuansteckung pro Infizierten. Auch der größte Ansturm auf die Krankenhäuser stehe erst noch bevor.
[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]
Vor dem 20. April ist deshalb an Lockerungen für Bürger und Wirtschaft gar nicht zu denken. Aber das Redeverbot über eine Exit-Strategie, das sich Angela Merkels Regierung und die Mehrzahl der Länderchefs bis zu ihrer Lagebewertung am 14. April auferlegt haben – um nicht zu früh Hoffnungen zu wecken – findet nicht jeder richtig.
[Das große Coronavirus-FAQ: 99 wichtige Fragen und Antworten zur Pandemie – Coronavirus-Symptome, Schutz für sich selbst und andere und vieles mehr. Unser Service mit häufig gestellten Fragen.]
NRW-Chef Armin Laschet hat einen Expertenrat berufen. Die Nationalakademie Leopoldina, deren Wort im Kanzleramt Gewicht hat, kündigt Empfehlungen zum „Wiederhochfahren“ an.
Je nach Bundesland ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus unterschiedlich. Die Verdopplungszeit der Fallzahlen gibt an, wie schnell sich das Virus ausbreitet. So steht Bremen mit einer Zeit von 13 Tagen an der Spitze. Im Saarland dagegen verdoppeln sich die Fallzahlen noch innerhalb von sieben Tagen, also in knapp der Hälfte der Zeit. Berlin liegt mit zehn Tagen im Mittelfeld.
[Aktuelle Entwicklungen zur Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Die Entwicklungen speziell in Berlin an dieser Stelle.]
Eine Experten-Gruppe um den Chef des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, und den Würzburger Mediziner Martin Lohse hat jetzt ein Gerüst für die Zeit danach vorgelegt. Die 14 Autoren stammen aus vielen Fachrichtungen – von Medizin und Virologie über Ökonomie und Rechtswissenschaft bis hin zu Ethik und Sozialpsychologie. Gerade weil es nach Ostern keine Rückkehr zu „business as usual“ geben dürfe, müsse die Stufen-Strategie früh kommuniziert werden, schreiben sie. Nur wenn es gelinge, mit Wir-Gefühl und offener Information alle mitzunehmen, könne das beispiellose Projekt gelingen.
Was schlagen die Mediziner vor?
In einem sind sich alle einig: Gerade nach dem Lockdown bleibt Abstand im Alltag noch lange nötig. Die Leopoldina plädiert für eine Maskenpflicht und setzt sich dafür ein, Infizierte und ihre Kontaktpersonen per Handy-App und durch den gezielten Ausbau von Tests rascher und besser aufzuspüren. Nur so lasse sich verhindern, dass sich das Virus unbemerkt zu einer zweiten Welle ausbreiten könne. Auch der die Kanzlerin beratende Charité-Virologe Christian Drosten betont inzwischen, dass mehr Masken tragende Bürger helfen können, das öffentliche Leben rascher wieder hochzufahren.
Die Gruppe um Fuest kommt zum gleichen Ergebnis. Die schrittweise Lockerung der Auflagen erfordere, dass sich alle diszipliniert an die medizinisch notwendigen Einschränkungen hielten – von der Nies-Etikette bis zum besonderen Umgang mit Risikopatienten.
Für eine „risikoadaptierte Strategie“ der Öffnung nennen sie vier zentrale Kriterien, an denen sich jede Maßnahme orientieren müsse:
- Wie hoch ist das Ansteckungsrisiko?
- Wie hoch ist das Risiko schwerer Erkrankungen – und für wen?
- Wie wichtig ist der jeweilige Bereich für Wirtschaft und Gesellschaft?
- Wie gut lassen sich dort Schutzmaßnahmen fortführen?
Die Expertengruppe warnt vor einer falschen Alternative: Es gehe nicht um „Gesundheit oder Wirtschaft“. Beides müsse in Einklang gebracht werden – unter Abwägung aller Faktoren. Nicht nur Covid-19, auch Isolation könne krank machen.
Wie könnte der Exit-Stufenplan für die Wirtschaft aussehen?
Die Autoren betonen, ein stufenweiser Ausstieg müsse sich immer am aktuellen Risiko für den Schutz der Gesundheit orientieren. Je besser der auch ohne strikte Abschottung gelinge, desto leichter könne der Alltag zurückkehren. Vordringlich – das sieht auch die Leopoldina so – ist eine Ausweitung der Tests. Damit ließe sich die Handy-App optimal einsetzen, die Kontakt mit Infizierten meldet.
Große Hoffnung ruht auf Antikörper- Tests. Sobald ein Test verfügbar ist, der zuverlässig anzeigt, dass ein Mensch nach einer harmlos verlaufenen Infektion immun ist, kann diese vermutlich sehr große Gruppe zurück auf die Straßen und an die Arbeit. In Großbritannien wird erwogen, ein Armband für Immune einzuführen, das allen anderen zeigt: Ich bin keine Gefahr mehr.
[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]
Als erstes wird die Wiederaufnahme der Produktion in Industriebetrieben und industrienahen Dienstleistungen empfohlen – in Bereichen, in denen das Einhalten von Abständen umsetzbar sei. Um wirtschaftliche Verwerfungen im Rahmen zu halten, müssten Unternehmen mit hoher Wertschöpfung – insbesondere Teile des verarbeitenden Gewerbes – als Erste wieder mit der Produktion beginnen. Das Problem sind hier die gerissenen Lieferketten, zum Beispiel zu Zulieferbetrieben in Italien. Generell gelte, dass in allen Sektoren mit Ansteckungsgefahr die strengen Hygienestandards nach dem Vorbild von Krankenhäusern oder der Lebensmittelindustrie gelten sollen. Entscheidend sei, dass den Unternehmen genug Masken, Desinfektionsmittel und Medikamente zur Verfügung stehen.
Das ifo-Institut hat berechnet, dass der aktuell einmonatige Shutdown das Bruttoinlandsprodukt um 4,3 bis 7,5 Prozent einbrechen lassen könnte. Ein dreimonatiger Stillstand könnte bis zu 729 Milliarden Euro kosten und im schlimmsten Fall 1,8 Millionen Arbeitsplätze vernichten.
Was ist mit Schulen, Kitas, Bars und Restaurants?
Auch Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten könnten in einem ersten Lockerungsschritt schnell wieder an den Start gehen und mit der Arbeit beginnen. „Junge Menschen haben nur selten schwere Verläufe und Beschulung zu Hause senkt die Bildungsgerechtigkeit und behindert die Eltern, ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen“, sagen die Forscher. Auch Spiel- und Sportplätzen sollten bei Wahrung der Abstandsregeln und der Gruppengrößen rasch wieder öffnen. Weit schwieriger wird die Lage für Restaurants und Kneipen bewertet, „aufgrund oft schwer durchzusetzender Abstandsregeln und der zahlreichen, wechselnden Kundschaft“ werde es hier nur sehr vorsichtige Öffnungen geben können. Noch länger geschlossen bleiben könnten Diskotheken und Clubs.
Warum soll nach Sektoren und Regionen differenziert werden?
Bund und Länder haben hier eine besonders knifflige Aufgabe vor sich. Schon jetzt zeigen anscheinend kleine Unterschiede bei der Ausgestaltung der Beschränkungen große Wirkung. So untersagte Niedersachsen für Privatleute Einkäufe in Baumärkten, benachbarte Bundesländer nicht. Sofort setzte ein Baumarkt-Tourismus ein, weil die Menschen ihre freie Zeit zum Heimwerken nutzen wollten. Nun lässt Niedersachsen die Baumärkte wieder für alle offen. Die Forscher schlagen vor, Regionen mit niedriger Infizierung eher zur Normalität zurückzuführen. Ebenso Regionen mit besserer Krankenversorgung oder Regionen, in denen Tests eine hohe erworbene Immunität ergeben. Die bislang ergriffenen Maßnahmen seien eher pauschal, undifferenziert und wenig punktgenau ausgefallen.
Wichtig für die Entscheidungen werden auch die im Kreis Heinsberg gesammelten Erfahrungen sein. Zum 14. April soll eine Studie des Teams um den Leiter der Virologie am Bonner Universitätsklinikum, Hendrik Streeck, vorliegen, der mit seinem Team im Kreis Heinsberg von Haus zu Haus gegangen ist.
Dort wurden zum Beispiel Abstriche von Türklinken, Handys und Fernbedienungen gemacht, um Infektionswege zu identifizieren. Streeck ist skeptisch, was eine Übertragung über das Berühren von Gegenständen betrifft. Und bezweifelt, dass bei Friseur- und Restaurantbesuchen ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht. Er glaubt, dass auch in anderen Geschäften des Einzelhandels mit Vorsichtsmaßnahmen eine baldige Öffnung machbar sein könnte.